Insgesamt 45 Jahre, davon zuletzt 18 ½ Jahre als DFB-Stützpunktkoordinator in Bayern, hat er sich in der Fußball-Talentförderung um die Entdeckung, Entwicklung und Förderung von unzähligen Nachwuchskickern und vielen späteren Profis gekümmert. 18 ½ Jahre in einer Struktur, die er selbst mit aus der Taufe gehoben hat. Peter Wimmer, einst selbst Spieler bei den FC Bayern Amateuren und nur durch den Unfall eines Freundes mit 20 Jahren in die Trainerkarriere gerutscht. Es folgten viele Stationen und Aufgaben – vor allem in und um Rosenheim. Jetzt ist er 67 Jahre alt und es ist offiziell Schluss mit der Aufgabe als Stützpunktkoordinator beim Deutschen Fußball-Bund. Wer sich mit ihm über Fußball und Talentförderung unterhält, merkt aber schnell, dass inoffiziell mit Sicherheit noch lange nicht Schluss ist.
Peter, wer sich in Bayern mit Fußball und Talentförderung beschäftigt wird dich ganz sicher kennen. Deutlich weniger werden wissen, dass du nicht ganz unschuldig bist, dass wir in Deutschland über das flächendeckende Talent-Stützpunktsystem des DFB verfügen.
Peter Wimmer: Man muss die Geschichte nicht größer machen, als sie ist. Es geht hier ja auch nicht um meine Person. Grundsätzlich ist es ja so, dass man Fußball immer ganzheitlich betrachten muss. Für eine erfolgreiche Struktur heißt das, dass es den kleinen Dorfverein genauso braucht, wie den großen Lizenzklub, den organisierten Amateurfußball, den Profifußball und auch ganz oben die Nationalmannschaft. Jeder Mosaikstein muss für sich gut funktionieren und dann müssen die Mosaiksteine auch als Gesamtgefüge zusammenpassen. Und damals im Jahr 2000 hatten wir eine ganz problematische Situation in Deutschland.
Inwiefern?
Peter Wimmer: Die Nationalmannschaft hatte eine für die Ansprüche des deutschen Fußballs katastrophale Europameisterschaft gespielt und auch die Wertschätzung der Nationalmannschaft war quasi nicht mehr vorhanden. Es war ja sogar für einige Profis nicht mal mehr das Ziel, unbedingt für die Nationalelf auflaufen zu wollen. Und das ist natürlich ein Riesenproblem, weil das auf alle weiteren Ebenen ausstrahlt und damit auf den gesamten organisierten Fußball. Da musste was passieren und das haben die Verantwortlichen beim DFB damals auch erkannt.
Zu denen hast du zu der Zeit aber gar nicht gehört.
Peter Wimmer: Nein. Das waren Gerhard Meyer-Vorfelder, der damalige DFB-Präsident, Michael Skibbe und Rudi Völler, die damals die neue Doppelspitze des DFB-Teams gebildet haben. Ich war damals beim TSV 1860 Rosenheim unter anderem auch für den Nachwuchs verantwortlich und dem DFB ist nicht verborgen geblieben, dass zu dieser Zeit von diesem verhältnismäßig kleinen Fußballverein sehr viele Spieler für den Leistungsbereich und die Junioren-Nationalmannschaften hervorgebracht wurden. Da musste also grundsätzlich etwas gut funktionieren. Deshalb klingelte das Telefon und ich sollte dem DFB unsere Arbeit vorstellen. Also bin ich nach Frankfurt gefahren und habe unseren Ansatz erläutert. Im Grunde genommen ging es darum, fernab der großen Bundesligaklubs ein Umfeld und Strukturen zu schaffen, in dem sich Fußballtalente aus der Region bestmöglich entwickeln können, um dann den nächsten individuellen Karriereschritt zu schaffen. Nichts anderes, als ein DFB-Stützpunkt wie wir ihn heute kennen. Und die Vision war, diesen Ansatz auf andere Vereine in ganz Deutschland zu übertragen. Konkret war das Ziel damals dann 390 DFB-Stützpunkte als Basis und circa 30 Bundesliga-Leistungszentren aufzubauen. Dazu klare Organisationsstrukturen, sehr gute und passende Trainer*innen, eine gute Talentfindung und für diese dann laufend angepasste Entwicklungsschritte.
Wahrscheinlich einfacher gesagt als getan. In der Talentförderung, über die wir hier sprechen, werden ja zehn Personen wahrscheinlich zehn unterschiedliche Meinungen haben, wie man Talente entdeckt und richtig fördert. Es fängt ja schon mit der Beurteilung an, wer Talent hat.
Peter Wimmer: Das ist überhaupt nicht so schwer und kompliziert, wie es teilweise gemacht wird. Statt sich aufs Wesentliche und die Grundtalente zu konzentrieren, wird heute zum einen häufig viel zu detailliert und zu verwissenschaftlicht hingeschaut. Vor lauter Einzelparametern verschwimmt dann das Gesamtbild. Und zum anderen haben wir durch die Entwicklungen im professionellen Fußball ein Umfeld mit zum Beispiel Scouts, Spielerberatern und auch diversen unternehmerischen Interessen, durch das noch weitere Beurteilungskriterien herangezogen werden, die überhaupt nichts mit dem eigentlichen Fußballtalent zu tun haben und dies bezüglich auch nicht hingehören.
Was ist denn Talent?
Peter Wimmer: Die Fähigkeit, etwas besonders gut zu machen. Ein einfaches Gedankenspiel: Du sitzt im Café an der Theke. Dann kommt da ein Mann rein, setzt sich neben dich und sagt: ‚Ich habe gerade da draußen ein paar Kindern beim Fußball spielen zugeschaut. Da war ein Junge dabei, der hat richtig Talent.‘ Was hat er gesehen?
Ich weiß es nicht! Was hat er denn gesehen?
Peter Wimmer: Der Junge war auffällig! Er hat bei dem Jungen etwas gesehen, dass ihn auf dem Bolzplatz von allen anderen abgehoben hat. Vielleicht war es eine unglaubliche Dynamik, ein gekonnter Umgang mit dem Ball am Fuß, scharf geschossene Bälle oder vielleicht war es extremer Wille, seinem Gegenspieler den Ball abzujagen und solange nachzusetzen, bis er den Ball hatte. Vielleicht war es seine sehr enge und trickreiche Ballführung, vielleicht seine Coolness, mit der er jede Chance reingemacht hat. Diese Auffälligkeit hat der Mann gesehen – das individuelle Talent dieses Jungen.
Dann haben wir ja grundsätzlich ziemlich viele Fußballtalente.
Peter Wimmer: Moment! Es ging ja erstmal darum, was überhaupt als Talent für jeden erkennbar ist. Daraus ist nicht sofort abzuleiten, dass sich der Junge zu dem entwickelt, was allgemein unter einem Fußballtalent verstanden wird. Wir wissen nur, dass dieser Junge ganz offensichtlich ein Talent hat, das man fördern und entwickeln kann. Nicht mehr und nicht weniger.
Okay, dann braucht es also mehr als nur ein Talent.
Peter Wimmer: Ja natürlich. Nehmen wir wieder den Jungen und nehmen wir an, er kann anderen wahnsinnig gut den Ball abjagen – das ist sein individuelles Talent, sein Merkmal. Wenn er dann den Ball hat, aber nichts mit ihm anzufangen weiß, wird das im Fußball nicht für mehr reichen, als bei den anderen Jungs auf dem Bolzplatz mit diesem individuellen Talent zu glänzen. Aber ein Talent ist eben die Voraussetzung für eine mögliche Weiterentwicklung.
An diesem individuellen Talent wird dann idealerweise wie gearbeitet?
Peter Wimmer: Wichtig ist, dass sich die Spielerin bzw. der Spieler begeistert „austobt“ – am Bolzplatz, in seinem Umfeld, in der Mannschaft und womöglich in zusätzlichen Sportarten. Es wird dann geschaut, wie man das Talent entwickeln kann und wie es sich idealerweise einfügt in die weiteren unterschiedlichen Fähigkeiten, die man zum Fußballspielen braucht. Sehr wichtig ist ein erkennbarer eigener innerer Wille! Das Talent ist sozusagen der Basisbaustein für die Arbeit. Dann ist der Trainer gefordert, den Spieler oder die Spielerin durch gute Beobachtung, wie die Trainingsinhalte im Spiel umgesetzt werden, und eine darauf aufbauende gezielte Förderung durch die individuellen Entwicklungsschritte zu begleiten. Ganz wichtig zu wissen ist, dass die spätere Dynamik nicht allein von der Körpergröße der jugendlichen Talente abhängt. Da wird oft vorschnell selektiert.
Wie begleitet man richtig?
Peter Wimmer: Es ist wichtig zu erkennen, ob die Grundtalente für leistungsorientierte Ansprüche gegeben sind. Im Verein sollte dann, dem Anforderungsprofil entsprechend, ein leistungsgerechter Einsatz unabhängig der Altersklasse gewährleistet werden, das heißt: Spieler dem individuellen Leistungsvermögen entsprechend in höheren Jahrgängen trainieren und spielen zu lassen. Damit ist automatisch für hochbegabte Spieler auch in einem vermeintlich kleineren Verein eine entwicklungsgerechte Förderung gegeben. Zeitgleich werden der Spieler und der Verein dann idealerweise vom DFB und den Landesverbänden in der professionellen Talentförderung begleitet. Das Talent kann so seine individuellen Möglichkeiten in den bereits gegebenen Strukturen ausloten. Voreilige Vereinswechsel, die ja häufig mit großen Entfernungen verbunden sind, müssen also gar nicht unbedingt sein. Ähnlich ist es auch bei den sogenannten Spätentwicklern. Hier muss das Trainerauge erkennen, ob das Talent einzelne Inhalte nicht kennt oder einfach nicht kann. Dafür sind das sogenannte Trainingsalter und das Umfeld wichtige Kriterien. Ein Spieler, der beispielsweise bisher nie intensiver oder professioneller gefördert wurde, wird schlichtweg viele Trainingsinhalte zur individuellen Förderung nicht kennen und kann sie dann auch noch nicht. Er kann sie sich aber aneignen, sofern er die Voraussetzungen mitbringt.
Das stellt aber hohe Anforderungen an den Trainer oder die Trainerin.
Peter Wimmer: Ja natürlich. Es hat auch niemand gesagt, dass der Job der Trainerin oder des Trainers einfach wäre. Es geht ja darum, dass an den unterschiedlichen fußballerischen Fertigkeiten methodisch gearbeitet wird. Und eben auch ganz gezielt an dem individuellen Talent. Das ist schließlich die Waffe dieses einzelnen Spielers.
Was ist denn die Waffe von Bastian Schweinsteiger gewesen, den du neben vielen anderen späteren Profis mehrere Jahre betreut und begleitet hast?
Peter Wimmer: Basti hatte natürlich viele überragende oder vereinfacht zu sagen alle Merkmale: Immer den Ball wollen, mit seiner Ballsicherheit und seinem Durchsetzungsvermögen immer die Situation oder sogar das Spiel entscheiden zu können. Seine Waffe ist sein unbändige Wille, sein Charakter, vollkommen unabhängig vom aktuellen Spielstand oder Rückschlägen bis zum Schluss immer alles reinzuwerfen, was geht. Das hat er schon immer verkörpert. Ein Beispiel: Basti spielte bei uns im Sinne seiner individuellen Förderung mit zwölf Jahren bei den zwei Jahre älteren in der höchsten Leistungsklasse. Das war für kleinere Vereine nicht unüblich, aber bei einem mittelgroßen Club, wo schon viele Talente eine hohe Leistungsdichte bilden, nicht alltäglich. Er hat als D-Jugendlicher in der höchsten C-Jugendliga gespielt. Das ist gerade körperlich ein Quantensprung. Und dann: Oktober, tiefer Boden, Basti schießt aufs Tor, der Torwart hält, Basti steht wieder auf, schießt wieder aufs Tor, der Torwart hält wieder, Bast steht wieder auf, ein drittes Mal, er schießt, der Ball ist im Tor, erst dann bleibt er liegen. Aber Basti wäre auch noch ein viertes oder fünftes Mal aufgestanden. Dieser innere Trieb, diese Leidenschaft, die Aktion zu Ende zu bringen. Da sprichst du nicht mehr so viel über andere Kriterien, über Tempo, über Elternhaus usw. Da setzt du ja auch für ein gewisses Level voraus und das hat bei ihm ja auch alles gepasst. Es müssen am Ende nicht alle Talentmerkmale bei 100 Prozent stehen, wenn du so ein extrem dominantes Merkmal hast. Bei einem richtig guten Spitzentalent überwiegt dieses Merkmal dann und genau dieses Spitzentalent wird es dann auch schaffen. Manuel Riemann zum Beispiel konnte bereits mit 14, 15 Jahren unterschnittene Flugbälle im Spiel zielgenau über 40, 50 Meter adressieren. Heute, 20 Jahre später, ist diese Fähigkeit, die Manuel schon als Jugendlicher besessen hat, ein absolutes Leistungskriterium für die Beurteilung eines Spitzen-Torhüters. Oder die Genialität eines Thomas Broich, der dann ja später seinen Spitznamen Mozart bekommen hat und bei Gladbach sogar mit Günther Netzer verglichen wurde. Diese Genialität hätte meiner Meinung nach bei seinen weiteren Entwicklungsstufen noch deutlich besser unterstützt werden müssen. Und grundsätzlich ist es natürlich auch schön und lehrreich, wenn man merkt, dass man mit seiner Einschätzung eines Talents richtig lag, wenn dieses Talent eines Spielers dann wirklich das herausragende Merkmal einer späteren Profi-Karriere war, oder auch noch nach der aktiven Zeit das Talent dieses Menschen ist.
Wie sieht denn eine gute Unterstützung solcher Merkmale aus?
Peter Wimmer: Das ist natürlich nicht immer ganz einfach und hat mit Individualität zu tun. Es geht darum, als Verantwortlicher auch bereit zu sein, solche wichtigen Talentmerkmale eines Spielers gewinnbringend hervorzuheben, wertzuschätzen, auch dem Spieler gegenüber zu bestätigen und auch in seinem Umfeld synergieeffizient einzusetzen. Dann wird dieser Spieler reifen, dann wird er wachsen. Und dann – sage ich gleich noch dazu – wird sich um einen solchen Spieler herum ein Umfeld bauen mit anderen Spielern, die zu den Kriterien dieses Spitzentalents passen, die sich daran auch hochziehen, performen und die dann gemeinsam Erfolg haben. Für dieses Umfeld sind dann in erster Linie der Trainer oder auch der sportliche Leiter eines Vereins verantwortlich. Es geht also um Wertschätzung und darum, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich der Spieler wohlfühlt. Bitte nicht verwechseln mit Wohlfühloase! Aber der Spieler muss sich wohlfühlen und für sich merken, dass es sein innerer Drang ist, diese Sportart und sein spezielles inneres Merkmal laufend zu fühlen, diese Gier und diese Leidenschaft. Und daran, also an allen Grundlagen, die es in der Talententwicklung gibt, hat sich überhaupt nichts verändert. Das war sicher vor 100 Jahren schon so.
Dann lass uns nochmal über die dafür nötigen Strukturen reden. Die wurden dann mit den mit den DFB-Stützpunkten deutschlandweit geschaffen?
Peter Wimmer: Es wurde flächendeckend eine sehr starke Basis geschaffen, auf der überall gut aufgebaut werden konnte. Und da wurde ja auch sehr viel richtig gemacht. Parallel auch mit der weiteren Professionalisierung im Fußball mit der Gründung der heutigen DFL. Dadurch entstanden ja auch unter anderem die Nachwuchsleistungszentren der Lizenzklubs, die wiederum Teil der Lizenzierung wurden. Und für die Talentförderung in Bayern mit seinen 64 Talentstützpunkten und seinen rund 4500 Vereinen absolut herausragend war dann ja auch noch die Einführung der regionalen BFV-Nachwuchsleistungszentren im Jahr 2008 als weitere Ebene zwischen den flächendeckenden Stützpunkten und den Bundesliga-Nachwuchsleistungszentren. Damit hat Bayern eine Vorreiterrolle eingenommen und die Rahmenbedingungen für die Ausbildung und Begleitung der bayerischen Talente noch einmal deutlich verbessert. Zudem gibt es auch noch die regionalen Auswahlteams, in denen sich die besten Talente der Region treffen, miteinander trainieren und sich vergleichen und die Bayernauswahlteams, die sich wiederum mit den Besten deutschlandweit oder auch international messen. Der BFV bietet als größter Landesverband Deutschlands eine flächendeckende Talentförderung die sowohl den Leistungs- wie auch den Amateurfußball hervorragend bedient.
Aber in den letzten zehn, zwanzig Jahren hat sich im Fußball viel verändert. Im Spitzenfußball ist seit Jahren die fortschreitende Kommerzialisierung ein polarisierendes Thema, im Nachwuchsbereich sind auch die Einflüsse von außen – egal ob durch Medien, Druck der Eltern oder Erfolgshunger von Vereinen, um ein paar Beispiele zu nennen – größer geworden. Wie kritisch siehst du die Entwicklung?
Peter Wimmer: Sagen wir so. Ich habe ja anfangs bereits erklärt, dass im Zentrum immer der Spieler und die Spielerin stehen müssen. Und alles, was davon ablenkt oder dafür sorgt, dass es zu einer Verschiebung des Fokus kommt, ist schwierig. Da muss entschieden gegengesteuert werden. Es geht in erster Linie um die, die auf dem Platz stehen und nicht jenen, die unterschiedliche Plattformen des Fußballs für andere oder eigene Interessen nutzen.
Man wird aber das Rad sicher nicht zurückdrehen können. Wie realistisch ist es denn, solche Einflüsse wieder zurückzudrängen oder zu kontrollieren? Das klingt ein wenig nach Fußballromantik.
Peter Wimmer: In der Tat schwierig. Aber natürlich sollten die Entscheider an den Schnittstellen der Fußballstruktur dies versuchen oder zumindest dort begrenzen, wo es geht. Aber es gibt ja auch noch andere Bereiche, in denen man ansetzen kann und sollte.
Die da wären?
Peter Wimmer: Da geht es vor allem um die Qualität der Trainerinnen und Trainer und die Wertschätzung ihrer Arbeit. Wenn Spitzentalente mit individueller herausragender Klasse den Weg in die Spitze finden sollen, braucht es auch Trainer und Trainerinnen, die diese Talente auf Spitzenniveau individuell fördern können. Das ist Punkt eins. Aber da sind wir schon sehr weit und auch der kontinuierliche Wissenstransfer von der Spitze an die Basis findet statt. Aber wir brauchen diese qualifizierten Trainer und Trainerinnen durchgängig auf allen Ebenen und in allen Altersklassen. Ganz entscheidend ist der Mittelbau. Das sind die älteren Jugendjahrgänge in der Talentförderung und da haben wir meiner Meinung nach ein großes Wertschätzungsproblem für die Arbeit der Trainerinnen und Trainer. Für die Entwicklung eines Spitzentalents ist dessen richtige Förderung in der U15 genauso wichtig, wie dessen individuelle Förderung in den weiteren Jahrgängen und beim Übergang in den Profibereich. Von daher müsste die Wertschätzung für die jeweilige Arbeit in allen Altersklassen die gleiche sein. So ist es aber nicht. Wir haben ein ganz klares Gefälle. Wenn wir das auf das Schulsystem übertragen würden, wäre es so, dass der Lehrer der zehnten Klasse mehr verdient, als der Lehrer der sechsten Klasse, oder mehr Wertschätzung für seine Arbeit erfährt. Da wäre ja klar, was dann passiert. Alle wollten die zehnte Klasse unterrichten oder noch besser die zwölfte. Und nichts anderes passiert leider im Fußball. Diesem Problem kann natürlich als erstes im Verein gegensteuert werden. Das gilt übrigens – auch wenn wir hier jetzt von Spitzentalenten und Spitzenförderung reden – für alle Vereine bis hinunter zum kleinen Dorfklub. Und ein anderes sehr wichtiges Thema ist die Durchlässigkeit unserer Altersstrukturen.
Damit ist was konkret gemeint?
Peter Wimmer: Wir haben in Deutschland ganz einfach unsere Altersklassen. An denen halten wir fest. Das ist in der Regel ja auch gut, aber eben nicht in allen Fällen. Schließlich geht es ja um die individuelle Förderung des Talents, dem sich alles andere anpassen sollte. Und da wird’s dann in unseren förderalen Strukturen schwierig. Wir haben auf der einen Seite den Nachwuchs, der durch den gesellschaftlichen Stellenwert und die Prominenz des Fußballs mittlerweile schon sehr früh anfängt. Die meisten so mit vier, fünf Jahren. Die haben dann anders als früher in der U15 bereits zehn Jahre fußballerische Ausbildung durchlaufen und sind in ihrer Entwicklung schon sehr weit. Und da stellt sich die Frage, warum so ein Spieler – wenn er körperlich und spielerisch schon ‚soweit‘ ist, nicht entwicklungsgerecht bei den Älteren spielen soll. Wir haben aber sehr häufig die Fälle, dass wir solche Spieler quasi in ihrer Altersklasse festhalten, oder sogar einen 20-Jährigen zurückstufen, um eine U19-Mannschaft spielfähig zu halten. Aber glaubt irgendwer, dass es für einen Kai Havertz oder Florian Wirtz – und ich könnte jetzt noch zehn weitere nennen – gut gewesen wäre, sie in ihrer Altersklasse zu halten? Das ist in vielen Ländern anders geregelt und deshalb ist es auch so, dass verhältnismäßig kleine Länder wie Österreich, die Schweiz oder Kroatien so gut aufgestellt sind und aus diesen Ländern aktuell so viele junge Talente in der Bundesliga aufschlagen. Die wurden schon früh an den Profibereich herangeführt. In Österreich darfst du schon mit 15 bei den Herren eingesetzt werden. Wir müssen Leistungsstruktur über Altersstruktur stellen. Und wenn ein Verein wie der FC Bayern München dies so vorbildlich umsetzt, wie er das derzeit im Nachwuchsbereich macht, sollten sich das alle Vereine bis hinunter zum kleinen Amateurverein abschauen. Die Spieler und Spielerinnen sind heute viel früher in ihrer Entwicklung im Leistungsbereich angekommen, aber die Strukturen lassen einen Einsatz nicht zu. Im Lizenzbereich geht es jetzt schon etwas früher und dort wird es teilweise umgesetzt. Ich persönlich wünsche mir die leistungsgerechten Spielrechte aber auch für den semiprofessionellen und auch für den klassischen Amateurbereich. Du musst ein Talent, wenn es denn eines ist, früh genug erkennen, fördern und wertschätzen. Damit wird auch im Amateurbereich die Attraktivität des Fußballsports gefördert.
Wir haben jetzt viel über Talent gesprochen und Strukturen, die dieses Talent besser erkennen und fördern lassen. Ist es heute noch möglich, in Deutschland eine Karriere vom klassischen Bolzplatz in die Spitze hinzulegen?
Peter Wimmer: Hundertprozentig! Das richtige Talent, das sich – was übrigens auch ein Talentkriterium ist – über alle Widerstände hinwegsetzen will, wird bei Wind und Wetter draußen sein, wird sich bewegen und versuchen, etwas zu unternehmen. Das ist schon mal Grundtalent. Wir müssen für dieses Talent die jeweiligen Strukturen bieten und anpassen, dann wird es sich auch weiterhin durchsetzen. Ich denke da nur wieder an den Willen von Bastian Schweinsteiger. Er würde auch heute wieder den Weg vom Bolzplatz in den Profifußball schaffen. Ihn könnten keine Strukturen verhindern, weil er einen überragenden inneren Drang hat. Ich hätte eher die Sorge, dass wir ihn überlagern und zu viel machen. Aber dann würde dieses Talent seine Ellenbogen ausfahren und zeigen, dass es einer anderen individuellen Förderung bedarf. Es liegt an uns, es dem Talent oder den Talenten so einfach wie möglich zu machen, sich zu entfalten.