Wie wird man eigentlich Fußball-Profi? Erfolgsautor Ronald Reng (u.a. „Robert Enke. Ein allzu kurzes Leben“ und „Spieltage. Die andere Geschichte der Bundesliga“) wollte dieser Frage unbedingt nachgehen – und er liefert Antworten, raubt Illusionen und weiß um den nicht unerheblichen Faktor namens Glück, der den Weg ins bezahlte Geschäft bisweilen durchkreuzt. Ausgangspunkt seiner knapp zehnjährigen Spurensuche war das mittelfränkische Weißenburg, von wo aus er die drei bayerischen Nachwuchstalente Marius Wolf, Niko Reislöhner und Fotios „Foti“ Katidis auf ihrem Weg zum Traumberuf eng begleitete.
Aus Rengs Langzeit-Recherche, die ihn außerdem in vier bayerische Bundesliga-Nachwuchsleistungszentren sowie in die Stadien der Regionalliga Bayern verschlagen hat, ist der Bestseller „Der große Traum. Drei Jungs wollen in die Bundesliga“ entstanden, in dem er eindrucksvoll aufzeigt, dass Talent alleine noch lange nicht ausreicht, um eine große Karriere zu starten. Zwischen Champions League und Fliesenleger-Lehre liegen manchmal nur Nuancen.
Im Interview erzählt Reng, wie er auf die drei bayerischen Talente aufmerksam geworden ist, was er von der Talentförderung in Deutschland hält und warum es sich trotz aller Unabwägbarkeiten zu träumen lohnt.
Herr Reng, was muss ein Talent mitbringen, um Fußballprofi zu werden?
Ronald Reng: Die Grundlage ist Ballfertigkeit, man muss mit dem Ball koordinativ sehr sicher umgehen können. Wichtig ist dann Schnelligkeit, und zwar in jeder Hinsicht. Man muss nicht nur auf den Beinen schnell sein, sondern auch gedanklich schnell Situationen erkennen und schnell saubere Aktionen am Ball ausführen können. Dazu kommen viele weitere Dinge wie Athletik oder Druckresistenz. Und dann kommt der Faktor Glück ins Spiel…
Sie sprechen es selbst an: Zentrale Aussage in Ihrem Buch ist es, dass Zufall und Glück auf dem Weg zum Profi eine sehr große, ja tragende Rolle spielen. Waren Sie davon selbst überrascht?
Reng: Wenn ein Fußballer in ein Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) eines Profiklubs kommt, konkurriert er deutschlandweit mit rund 11.000 anderen NLZ-Kickern. Jeder von ihnen kann richtig gut Fußball spielen. Bloß von diesen 11.000 Spielern kommen am Ende nur 200 in der Bundesliga an – das ist ein statistischer Fakt. Da muss also Glück eine wahnsinnige Rolle spielen. Was mich aber überrascht hat, ist die große Subjektivität der Bewertung.
Wie genau meinen Sie das?
Reng: Ich hatte mir vorgestellt, dass Fachleute – also vor allem die Trainer – unter diesen 11.000 Spielern einigermaßen sicher diejenigen identifizieren können, die für eine Profikarriere in Frage kämen. Das ist aber nicht so. Wenn ein Trainer oder Scout über ein Talent spricht, dann klingen die Aussagen zwar immer sehr logisch. Fragt man aber zehn Trainer nach ein und demselben NLZ-Spieler, dann bekommt man zumeist sehr unterschiedliche Meinungen präsentiert. Denn auch Trainer sind nur Menschen, die nach ihren Vorlieben und Erfahrungen über Talente urteilen. Der eine liebt das Pressing und preist deshalb die Balleroberung eines Talents, der andere will einen dribbelstarken Flügelstürmer und findet dasselbe – beim Pressing famose – Talent schlecht, weil es zu selten losdribbelt. Für einen talentierten Spieler ist das ein Glücksspiel. Es kommt sehr stark darauf an, ob er einen Trainer hat, der in ihm etwas sieht – oder zumindest mehr sieht als andere Trainer.
Würden Sie sich mehr Objektivität wünschen?
Reng: Das ist eine sehr gute Frage. Ein gewisses Maß an Subjektivität wird es immer geben, und es spielen ja noch weitere Faktoren – wie zum Beispiel die körperliche Entwicklung der Heranwachsenden – eine große Rolle. Ich war dennoch erstaunt, wie wenig objektive Kriterien in den Profi-NLZs herangezogen werden. Und das, obwohl es in der heutigen Zeit ja intensive Bemühungen gibt, den Fußball durch die Erhebung von Daten objektivierbarer zu machen.
Können Sie das an einem Beispiel festmachen?
Reng: Niko Reislöhner hatte schon fünf Jahre im NLZ der SpVgg Greuther Fürth gespielt, man sollte also davon ausgehen, dass die Entscheider seine Schwächen und Stärken bestens kannten. Doch dann sollte in der U19 plötzlich ein einziges Spiel darüber entscheiden, ob er weiter übernommen wird. Für dieses Spiel wurde dann tatsächlich ein Datenservice beauftragt, jede einzelne Bewegung Nikos zu analysieren – und er hatte überragende Werte. Ich hätte aber gedacht, dass eine solche Analyse bei jedem Spiel zu Einsatz kommt, und nicht nur einmal, plötzlich, und dann alles von diesem einen Tag abhängen soll.
Noch einmal zurück zum Thema Glück: Ist Ihr Buch auch deshalb so gelungen, weil ihre Protagonisten Niko, Foti und Marius genau den Weg genommen haben, den sie genommen haben?
Reng: Niko und Foti haben es ja nicht in den Profifußball geschafft. Deswegen ist es zwar ein bisschen unfair, wenn ich diese Frage mit „Ja“ beantworte. Aber es ist die Wahrheit. Die Geschichte ist umso interessanter, weil nicht alle Träume aufgehen. Auch ich habe bei diesem Buch also wahnsinnig viel Glück gehabt. Es war, als wenn mir ein Drehbuchschreiber das perfekte Szenario vorgelegt hätte.
Denn alle Drei haben sehr unterschiedliche Wege eingeschlagen.
Reng: Genau! Marius Wolf spielt mit Borussia Dortmund mittlerweile in der Champions League. Fotios Katidis hat nach seiner Zeit im NLZ noch jahrelang über die Regionalliga versucht, Profi zu werden – musste dann aber irgendwann einsehen, dass sich sein Traum nicht erfüllen wird. Und Niko Reislöhner hat mit 21 eine sehr rationale Entscheidung getroffen, mit dem Leistungsfußball aufgehört und sich für eine Lehre als Fliesenleger entschieden. Dazu lebt das Buch davon, dass es ein ständiges Auf und Ab war, es war immer spannend, es passierte ständig etwas Irres. Kein Weg ist geradlinig verlaufen. Als Niko 20 war und beim FC Ingolstadt 04 bei den Profis mittrainieren durfte, dachte ich zum Beispiel: Das ist der Durchbruch! Zwei Monate später wurde er wieder viel zu sehr an seinen Schwächen statt an seinen Stärken gemessen.
Im Gegensatz zu Marius Wolf.
Reng: Dass einer der drei Jungs tatsächlich Profi geworden ist, war mein großes Glück. Denn für das Buch sind die Einblicke ins Profi-Geschäft natürlich sehr wichtig. Doch auch für Marius gab es viele Stolpersteine, gefühlt war seine Karriere bestimmt drei oder viermal schon vorbei. Zum Beispiel als er mit 16 Jahren aus dem NLZ des 1. FC Nürnberg weggeschickt wurde oder später bei Hannover 96 in der zweiten Mannschaft versauerte. Doch er hat sich aus diesen Situationen immer wieder befreit.
Lohnt es sich denn überhaupt, den großen Traum zu träumen? Schließlich wird der Weg zum Profi ja auch ganz schnell zum Albtraum…
Reng: Träumen lohnt sich immer! Im Leben gibt es doch nichts Schöneres als Träume, denen man nachjagen kann. Man muss nur aufpassen, dass man nicht irgendwann zum Don Quijote wird und Windmühlen nachjagt, die es gar nicht gibt. Die meisten Jungs, die in ein NLZ kommen, haben in der Regel ja richtig Lust auf Fußball. Dort Fußball auf höchstem Niveau zu spielen, ist also erst einmal eine Supersache für sie. Die große Herausforderung ist es dann, die ganzen kleinen, unvermeidbaren Scherereien des Lebens als NLZ-Fußballer nicht zu groß werden zu lassen. Dass ich an einem Sonntag vier Stunden zum Spiel nach Freiburg fahre und dort auf der Ersatzbank sitzen bleibe. Dass ich schon wieder verletzt bin. Solche Widrigkeiten bekommen bei NLZ-Jungs und ihren Eltern oft eine Über-Dramatik. Da ist es wichtig, kühl zu analysieren: Ist das wirklich das Ende der Welt – oder nur ein blöder Sonntag?
Inwiefern hat sich durch das Buchprojekt ihr Blick auf den Fußball bzw. die Talentförderung in Deutschland verändert?
Reng: Viele denken ja, dass Deutschland in Sachen Nachwuchsförderung im Vergleich zu anderen Nationen – insbesondere England – mittlerweile etwas zurückhinkt und es an Talenten mangelt. Das konnte ich nicht erkennen. Ich bin vielmehr beeindruckt, wie viele großartige Nachwuchsspieler es in Deutschland gibt. Das Schwierige ist halt, sich als Bundesliga-Trainer zu trauen, auch mal einen 18-Jährigen spielen zu lassen, von dem man nie weiß, ob er sich bewähren wird. Dieser Mut kommt und geht in Wellen, weil Trainer immer auch schauen, was andere machen. Derzeit ist er sehr gering.
Die Talentförderung ist in Deutschland also besser als ihr Ruf?
Reng: Es sind ja lustigerweise die Verantwortlichen im deutschen Nachwuchsfußball selbst, die zurzeit ihre eigene Arbeit am meisten kritisieren. Daran kann man erkennen, wie viel Selbstreflexion und Wille zur Innovation vorhanden sind. Da sind zuletzt einige richtig tolle Ideen entstanden: Zum Beispiel das „Projekt Zukunft“, das DFB und DFL nun entworfen haben, enthält exzellente Neuerungen. Oder auch das Spiel auf kleine Felder in den jüngeren Jahrgängen. So etwas kenne ich aus anderen Ländern wie Spanien, Italien oder England nicht.
Bayern geht in Sachen Talentförderung einen deutschlandweit einzigartigen Weg: Neben den DFB-Stützpunkten gibt es im Freistaat zusätzlich – und quasi als Vorstufe zu den Bundesliga-NLZs – nochmals 18 BFV-Nachwuchsleistungszentren, um vielversprechende Talente möglichst lange heimatnah und in ihrem sozialen Umfeld zu fördern. Ist das der richtige Ansatz?
Reng: Das ist eine fantastische Idee. Denn schon allein durch die Fahrerei zu den Bundesliga-NLZ geht für Jungen vom Land sehr viel Zeit verloren. Deshalb wäre es ein toller Schritt, wenn man es Talenten ermöglicht, auch in Amateurvereinen auf hohem Niveau zu spielen. Ich fände es auch toll, wenn sich die Profiklubs einbringen würden, indem sie zum Beispiel Trainer oder ein gewisses Budget für diese Amateurvereine zur Verfügung stellen.
Eine interessante Idee.
Reng: Bei Athletic Bilbao gibt es dieses Modell bereits. Der spanische Erstligist gibt jedes Jahr rund eine Million Euro für 21 Jugendtrainer und sechs Trainerausbilder aus, die gar nicht im eigenen Verein arbeiten, sondern in die Amateurvereine der Region geschickt werden. In 45 Amateurklubs rund um Bilbao helfen diese Außendienst-Trainer beim Training, in sechs Klubs leiten sie sogar komplett das Jugendtraining. Die Vorteile liegen auf der Hand: Zum einen gibt es für Athletic eine viel größere Auswahl an gut ausgebildeten Jugendspielern. Zum anderen können die Talente weiterhin in ihrem gewohnten Umfeld bleiben.
Noch einmal zurück zu Foti, Niko und Marius. Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, drei Jungs aus Bayern über mehrere Jahre zu begleiten? Sie selbst stammen ursprünglich ja aus dem Hessischen.
Reng: Ich bin mehr oder weniger darauf gestoßen worden. Ich war auf einer Lesung in Nürnberg und bei der abschließenden Fragerunde wurde ich – wie eigentlich immer – gefragt, ob ich schon an einem neuen Buch arbeite. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine konkrete Idee und habe dann, mehr als Witz, das Publikum um Vorschläge gebeten. Und dann kam nach der Lesung tatsächlich eine Frau auf mich zu.
Petra Steinhöfer.
Reng: So ist es. Sie stellte sich als Spielerberaterin speziell für Nachwuchsfußballer vor. Über deren Weg könnte ich doch einmal ein Buch schreiben, sagte sie. „Äh, ja“, antwortete ich – und meinte es auch. Denn Frau Steinhöfers Geschichte alleine klang schon buchreif.
Inwiefern?
Reng: Frau Steinhöfer hat zwei Söhne. Einer davon, Markus, war Fußballprofi. Der andere, Tom, hat jahrelang in einem Bundesliga-NLZ gespielt, am Ende aber die Lust am Sport verloren. Sie hat also selbst miterlebt, wie sehr der Leistungsfußball die gesamte Familie vereinnahmt hat. Ständig musste sie ihre Söhne irgendwo hinfahren, ständig die dreckigen Trainingsklamotten waschen und zudem nahezu den gesamten Terminkalender der Familie nach dem Fußball ausrichten. Aus dieser Erfahrung heraus hat sie beschlossen, eine Beratungsagentur für junge Talente aus der Region zu gründen, da Spielerberater eigentlich nicht darauf spezialisiert sind, ganze Familien zu betreuen. Das wollte sie anders machen.
Wie ging es weiter?
Reng: Mit ihrer Agentur TUTOR hat sie damals zehn Spieler betreut. Ich habe diese dann im ersten Schritt selbst nach meinen eigenen Kriterien gescoutet und mir schließlich die drei Jungs herausgesucht, die ich für am hoffnungsvollsten hielt. Das waren Niko, Marius und Foti. 2013 hat das angefangen und ich wusste nicht, wie lange ich die drei begleiten würde. Es wurden neun Jahre.
Welchen Eindruck haben Sie während Ihrer Recherche vom Fußball in Bayern, insbesondere auch der von der Regionalliga Bayern, in der alle drei Protagonisten aktiv waren, bekommen?
Reng: Die Regionalliga Bayern hat eine sehr große Spannbreite. Es gibt kleine Dorfvereine, ambitionierte Amateurklubs, die in den Profifußball wollen, und eben die Nachwuchsmannschaften der Profiklubs. In gewisser Weise treffen Welten aufeinander. Ich habe Marius einmal zu einem Spiel bei den Würzburger Kickers begleitet. Bei dem Stadion und den vielen Fans hatte man schon den Eindruck, dass das Profifußball ist. Und eine Woche später spielst du dann beim SV Schalding-Heining, wo die Zuschauer fast direkt am Spielfeldrand stehen. Das macht den Charme der Liga aus.
Sie haben für Ihre Texte und Bücher zahlreiche Auszeichnungen bekommen. Ist „Der große Traum“ ihr bislang wichtigstes Buch?
Reng: Mein wichtigstes Buch ist sicher das über Robert Enke, in dem ich versucht habe, Depressionen zu erklären und durch das viele Leute – so zumindest die Resonanz – zum ersten Mal verstanden haben, was Depressionen überhaupt sind. Das hat gesellschaftlich noch einen viel höheren Stellenwert. Ich glaube „Der große Traum“ kann jedoch eine Bedeutung haben für sehr viele junge Fußballer, die davon träumen, Profi zu werden. Und auch für Fußball-Eltern.
Welchen Tipp würden Sie einem jungen Fußballer mit auf den Weg geben, der unbedingt Profifußballer werden will?
Reng: Versuche es und genieße den Weg – denn das Ziel wirst du wohl nicht erreichen.
Und welchen den Eltern?
Reng: Lass‘ es den Jungen versuchen, aber glaube nie, dass er wirklich Profi wird.
Zum Abschluss die klassische Frage aus Ihren Lesungen: Was ist ihr nächstes Buchprojekt?
Reng: Ich habe zwar schon angefangen, aber das ist noch nicht spruchreif. Es wird auch noch etwas länger dauern, vor 2024 wird das neue Buch nicht erscheinen. Eines kann ich aber schon verraten: Wahrscheinlich wird auch beim nächsten Buch Bayern vorkommen – schließlich kommt man im deutschen Fußball am FC Bayern München nicht vorbei.
Ronald Reng, geboren 1970 in Frankfurt am Main, gilt als einer der besten und renommiertesten Sportautoren weltweit. Seine Biografie über Robert Enke stand zehn Wochen unter den Top-Fünf der Spiegel-Bestsellerliste, seine Bücher „Spieltage. Die andere Geschichte der Bundesliga“ und „Mroskos Talente. Das erstaunliche Leben eines Bundesliga-Scouts“ wurden von der Deutschen Akademie für Fußball-Kultur jeweils als Fußballbuch des Jahres ausgezeichnet. Reng wohnte und arbeitete mehrere Jahre in London und Barcelona, mittlerweile lebt er mit seiner Familie in Frankfurt und Bozen.