Was bringen mir Erzählungen aus dem letzten Jahrtausend, mag manch einer denken, wenn es darum geht, wie es heute um den Fußball steht und wie der Fußball von morgen aussieht. Dass es lohnt, auch den „Alten“ zuzuhören und sich mit deren Erfahrungen und Einschätzungen auseinanderzusetzen, beweist ein Gespräch mit Heinz Tischler.
Der gebürtige Münchner ist zwischen Kriegstrümmern aufgewachsen, hat 1954 als 16-Jähriger mit einer Sondergenehmigung angefangen, Fußballspiele zu leiten und seine Worte helfen, so manche Entwicklungen, Errungenschaften und die heutigen Rahmenbedingungen für den Amateurfußball besser einzuordnen. Ein verklärter Blick auf die Vergangenheit ist dem Rentner und ehemaligen Regierungsbeamten der Landesversicherungsanstalt fremd.
Herr Tischler, wie kam es dazu, dass Sie am 1. Januar 1954 Schiedsrichter wurden?
Heinz Tischler: Das wurde mir quasi in die Wiege gelegt. Mein Vater war in jungen Jahren Ende der 1920er Jahre bereits im Fußballverein und als Schiedsrichter aktiv und ich bin später als kleiner Junge damit groß geworden. Ich war dabei, wenn er zum Beispiel nach Burghausen gefahren ist, um dort ein Spiel zu leiten. In den Nachkriegsjahren hat es natürlich auch im Fußball an vielem gefehlt. Spiele, gerade im Jugendbereich, sind in der Regel von den Betreuern der Mannschaften geleitet worden – mit den entsprechenden Unzulänglichkeiten, was Neutralität und Regelwerk betrifft. Das hat mich regelmäßig geärgert. Und da lag es eben auf der Hand, selbst Schiedsrichter zu werden. Dass ich 1954 im Alter von 16 Jahren nach der Schiedsrichter-Ausbildung und -Prüfung nur dank einer Sondergenehmigung meine Zulassung bekommen habe, habe ich erst viel später erfahren. Damals war das Mindestalter für Schiedsrichter noch 21 Jahre.
Welche besonderen Erinnerungen haben Sie an Ihre ersten Spiele als Schiedsrichter?
Tischler: Viele Erinnerungen an die Anfangszeit sind tatsächlich verblasst. Zumindest im Jugendbereich gab es damals ja nur wenige Spiele und entsprechend auch wenige Einsätze. An meinen ersten Einsatz bei den Senioren kann ich mich dagegen sehr gut erinnern – das war auch 1954: Post SV München gegen Pasing 03 München. Der ganze Schiedsrichterausschuss hat damals zugeschaut, wie sich der kleine und schmächtige Junge da bei den Herren schlägt. Und es war dann auch so, dass ich da mitten zwischen den gestandenen Männern stand und ein Spieler von Pasing – körperlich imposant – klar zum Ausdruck brachte, dass er sich von so einem Bengel nichts sagen lassen muss. Er trat die ganze Zeit recht arrogant auf und es kam nach einem Foul auch zu einer körperlichen Auseinandersetzung mit einem anderen Spieler. Dann wurde es kurz turbulent, hat sich aber glücklicherweise wieder beruhigt. Am Ende ist der Spieler nach Rücksprache mit den Verantwortlichen aus dem Spiel genommen worden, Pasing bestritt das Spiel mangels Ersatzspieler mit zehn Mann weiter und ich konnte es dann auch ordnungsgemäß beenden.
Es folgten viele weitere Spiele, wie ging es mit Ihrer Schiedsrichterkarriere weiter?
Tischler: Es hat mir viel Spaß gemacht und die Leistungen haben ganz offensichtlich auch gestimmt. Ich bin relativ schnell aufgestiegen und habe dann ein paar Jahre später in der Bayernliga Spiele geleitet, so zwischen 1966 und 1971.
Wie hat sich der Amateurfußball in München und Bayern denn im Laufe der Jahrzehnte verändert, sowohl auf als auch abseits des Platzes?
Tischler: Die Rahmenbedingungen haben sich natürlich massiv verändert. Nach dem Krieg gab es ja kaum Plätze, auf denen man überhaupt einigermaßen Fußball spielen konnte. Von den Funktionsgebäuden ganz zu schweigen. Auch die damals schon größeren Klubs wie der TSV 1860 München hatten da irgendwo für die Schiedsrichter eine kleine Kammer, in der man sich kaum umdrehen konnte. Das hat sich in München natürlich später mit den Bezirks-Sportanlagen massiv verbessert. Wenn ich heute so manche Sportanlagen in Bayern sehe – das ist dann schon beeindruckend, wie sich das alles entwickelt hat. Spielerisch hat sich natürlich das Taktische extrem verändert, weg von Libero und Vorstopper hin zu anderen, modernen Spielsystemen. Nicht zuletzt durch die Professionalisierung in den 1960ern und 1970ern und den bezahlten Trainern ist das Niveau schnell gestiegen. Die Emotionen auf und rund um den Platz sind dagegen immer noch dieselben, auch wenn ich sagen muss, dass die Art der Kommentare und persönlichen Beleidigungen schon aggressiver geworden ist.
Gab es ein Spiel oder eine besondere Situation, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Tischler: Ja, ich hatte das Glück, dass ich viele besondere Spiele leiten durfte und kam unter anderem bei vielen Vereinsjubiläen zum Einsatz. 1968 feierte der BSC Sendling sein 50-jähriges Bestehen mit einem Spiel gegen den TSV 1860 München mit seinen damals nationalen und internationalen Erfolgen und ganz großen Namen. Unter anderem auch dabei: Torwart Petar Radenkovic. Es war bekannt, dass Radenkovic in solchen Spielen in der zweiten Halbzeit gerne auch als Feldspieler auf dem Platz stand. So auch in diesem Spiel. Er wurde dann von zwei flinken Spielern des BSC düpiert und hat dann einen von ihnen ohne Chance auf den Ball so richtig am Schienbein erwischt und umgehauen. Das gab einen richtigen Tumult und ich musste da entscheiden. Einerseits ein klarer Platzverweis, andererseits stand am Wochenende der Bundesligastart an und das wäre eine Riesengeschichte in den Medien geworden. Ich habe dann mit ihm gesprochen und vereinbart, dass er weiterspielen darf, sich aber beim nächsten Spielzug auswechseln lässt. Rückblickend habe ich regeltechnisch natürlich die absolut falsche Entscheidung getroffen, denn es war nicht korrekt. Aber insgesamt war es für alle dann auch wieder die richtige Entscheidung. Wichtig ist aber auch: Der Gegenspieler hat sich nicht verletzt. Sonst hätte ich natürlich niemals so gegen die Regeln entschieden.
Haben Sie jemals ernsthaft darüber nachgedacht, als Unparteiischer aufzuhören?
Tischler: Tatsächlich gab es diese Situation: 1971 oder 1972. Ich hatte das Spiel Straubing gegen Schwandorf geleitet. Dabei ging es ziemlich emotional zu und ein Spieler hatte einem Gegenspieler direkt ins Gesicht gespuckt. Ich habe ihn des Feldes verwiesen. Damals gab es auch noch keine gelben und roten Karten, mit denen man überhaupt mehr Möglichkeiten der persönlichen Sanktionierung hat. Eigentlich waren sich alle einig, dass meine Spielleitung absolut korrekt und auch sehr gut war und perspektivisch war ich als Unparteiischer damals sogar kurz davor, in die Oberliga aufzusteigen. Dann kam aber die offizielle Beurteilung dieses Spiels durch den Beobachter und die war so schlecht, dass ich sogar in die Landesliga zurückversetzt werden sollte. Da war ich so enttäuscht, dass ich kurz davor war, aufzuhören. Ich habe dann aber doch weitergemacht, obwohl ich wirklich in die Landesliga zurückversetzt wurde. Später hat sich herausgestellt, dass es hinter den Kulissen bei den Verantwortlichen Streit und Animositäten gab und meine Beurteilung eine Retourkutsche war für die umstrittene Beurteilung eines Schiedsrichters aus Straubing bei dessen Spiel in München.
Sie haben viel erlebt! Welche großen gesellschaftlichen Entwicklungen haben den Amateurfußball am meisten beeinflusst?
Tischler: Den größten Einfluss hat mit Sicherheit die Digitalisierung und das sind absolut positive Einflüsse. Wenn ich daran denke, wie viele Stunden und Nächte mein Vater damals als Einteiler damit verbracht hat, die Spiele zu besetzen und das alles zu organisieren und wie das heute geht. Oder wie aufwendig die Passkontrolle war und was sich alles durch die fortschreitende Digitalisierung geändert und vereinfacht hat – das ist enorm und da gibt es nichts Vergleichbares in den letzten Jahrzehnten. Natürlich war es zum Beispiel nach der Wiedervereinigung schön, dass es insbesondere bei Freundschaftsspielen die Möglichkeit gab, den Osten und neue Vereine zu entdecken, aber das hat ja weniger mit dem Amateurfußball an sich zu tun. Für uns Schiedsrichter und die Spielleitung war natürlich auch die Einführung der gelben und roten Karten als persönliche Strafen ein absoluter Meilenstein. Dass zuletzt vom Verband auch die Aufwandsentschädigungen für die Unparteiischen angepasst wurden, hat mich auch sehr gefreut. Früher war es grundsätzlich ein reines Draufzahlgeschäft, Spiele zu leiten. Mit den Spesen hat man nicht ansatzweise das Benzingeld decken können, wenn es beispielsweise wieder mal nach Passau ging. Es ist gut, dass das heute besser ist.
Sie haben später das Engagement als Schiedsrichter gegen die Arbeit beim Sportgericht eingetauscht. Wie hat das Engagement Ihre Perspektive auf den Fußball und die Vereinsstrukturen geprägt?
Tischler: Das war 1974. Wegen einer Fußentzündung, deren Ursache sich nie geklärt hat, musste ich meine aktive Karriere als Schiedsrichter beenden. Ich habe dann zwar noch zum Beispiel als Schiedsrichterbeobachter weitergemacht, aber auch Interesse gehabt, ehrenamtlich beim Sportgericht mitzuarbeiten. Das war für mich nochmal ein ganz anderer Einblick in den Amateurfußball. Als aktiver Spieler oder Schiedsrichter hat man ja im Grunde genommen nichts mit der Spielorganisation, der Spielordnung oder der Rechts- und Verfahrensordnung zu tun. Das war schon sehr bereichernd und man lernt natürlich den Amateurfußball noch einmal von einer ganz anderen Seite kennen. Und ich muss rückblickend sagen: Auch wenn teilweise für die Beteiligten bei den Vereinen viel auf dem Spiel steht und Fußball immer auch emotional ist, war der Respekt der Vereinsverantwortlichen und Aktiven gegenüber dem Sportgericht immer gegeben. Und umgekehrt natürlich genauso. Der Umgang miteinander ist ohnehin immer der Schlüssel.
Wie wichtig war und ist für Sie das Ehrenamt im Sport, und welche Werte möchten Sie an jüngere Generationen von Schiedsrichtern weitergeben?
Tischler: Ohne Ehrenamt, kein Verein – so einfach ist das. Für Vereine sind die Mitglieder die Basis und die bekomme ich nur mit für sie attraktiven Angeboten. Die wiederum gibt es nur, wenn sich jemand drum kümmert und da geht nichts ohne ehrenamtliches Engagement. Ich kann nur jedem empfehlen sich ehrenamtlich im Verein oder als Schiedsrichter zu engagieren. Ganz allgemein ist es immer bereichernd, Verantwortung zu übernehmen, neue Dinge zu lernen und auch lernen zu müssen. Als Schiedsrichter im Speziellen ist einfach der Moment, alleine auf dem Platz zu stehen, entscheiden zu müssen, sich manchmal vielleicht auch hilflos zu fühlen und dennoch der Herausforderung zu stellen, für die persönliche Reife extrem positiv. Ich kann nur jeden dazu ermutigen. Am Ende muss es aber natürlich auch Spaß machen. Nicht jeder ist geeignet und bei manchen ist es auch okay oder sogar besser, wenn sie es nicht machen.
Was bedeutet es für Sie, heute Ehrenmitglied der Schiedsrichtergruppe München zu sein?
Tischler: Es ist schön, aber man muss es auch nicht größer machen, als es ist. Ich freue mich, bei Veranstaltungen noch Teil der Gemeinschaft zu sein – bei den Schiedsrichtern genauso wie bei den Sportrichtern. Aber ich hatte nie das Bedürfnis, mich für irgendwas feiern zu lassen. Genauso, wie es ja auch nicht meine Idee war, dieses Interview zu führen. Aber natürlich ist es auch ein schönes Gefühl und eine Wertschätzung für das, was man in der Vergangenheit gemacht hat. Wenn die Erfahrungen und Erlebnisse dann auch noch jemanden interessieren, umso besser!