Als am 22. Oktober in der U13-Junioren Kreisliga Würzburg/Main-Spessart die Jungs des TSV Uettingen gegen die JFG Spessarttor antreten, ist das Fernsehen vor Ort. Der Grund für den hohen Besuch könnte der Opa oder sogar Urgroßvater der Kicker sein. Es ist der Schiedsrichter, sein Name: Ludwig Bauer. Die Partie ist sein Jubiläum, und zwar nicht das erste.
Der mittlerweile 73 Jahre alte Pensionär leitet nämlich zum 3.333 Mal ein Fußballspiel. 60 Jahre lang ist er schon Schieds- beziehungsweise Linienrichter – früher hat er sogar mal die Stars des FC Bayern gepfiffen und Jürgen Klopp bei einem Verbandstag getroffen.
Im Interview erzählt der bemerkenswert fitte frühere Geschäftsführer eines Lebensmittel- und Sportgeschäfts und später weitergebildete Bilanzbuchhalter über seine unzähligen Erfahrungen auf dem Fußballplatz und warum er noch lange nicht ans Aufhören denkt.
Herr Bauer, Sie könnten doch längst die Füße hochlegen, stattdessen stehen Sie immer noch mehrmals in der Woche auf dem Fußballplatz. Was treibt Sie dabei an?
Ludwig Bauer: Es macht mir einfach noch zu viel Spaß. Ich bin einfach ein Fußballnarr und gerne Schiedsrichter. Am liebsten pfeife ich Juniorenspiele, weil man den Kindern und Jugendlichen noch etwas beibringen kann. Ein Beispiel: Letztens hat ein Torwart den Ball immer direkt nach vorne geschossen, wenn ein Mitspieler den Ball zuletzt berührt hatte, weil er sich nicht getraut hat, ihn in die Hand zu nehmen. Ich habe ihm dann in der Halbzeit gesagt, dass das nur bei gezielten Rückpässen verboten ist, aber wenn der Ball abgefälscht ist, also nicht bewusst zu ihm zurückgespielt wurde, er den Ball ruhig in die Hand aufnehmen darf.
Wie kamen Sie zur Schiedsrichterei? Sie haben ja schon in jungem Alter angefangen, Spiele zu leiten. Wollten Sie nicht lieber selbst Fußball spielen?
Bauer: Das habe ich auch. Ich habe mit neun Jahren in meinem Heimatverein 1. FC Gerolzhofen angefangen, damals in der Schülermannschaft. Ich war der jüngste, die meisten meiner Teamkameraden waren schon 14 Jahre, aber zu der Zeit gab es im Nachwuchs ja noch nicht so viele Altersklassen wie heute. Da die Schiedsrichtergruppe Nachwuchs suchte, habe ich mich für einen Kurs angemeldet, das war am 30. März 1963. Der Obmann hat meine Anmeldung nicht angenommen, weil ich mit meinen 13 Jahren eigentlich zu jung für den Kurs war. Dabei war mein Schulkamerad nur zwei Wochen älter als ich, doch der wurde sofort genommen – und ich nicht.
Und was ist dann passiert?
Bauer: Am ersten Schulungsabend um 20 Uhr hat mein Schulkamerad Sturm geläutet. Für den Lehrgang bräuchte es zehn Teilnehmer, es waren aber nur neun, sodass ich doch mitmachen durfte. Bis zur Schiedsrichterprüfung dauerte der Kurs damals über ein Jahr, aber mein erstes Spiel habe ich schon vorher leiten dürfen, das war am 16. November 1963. Als ich am Sportheim ankam, wollten die mich erst wegschicken. (lacht)
Erzählen Sie bitte!
Bauer: Ich bin von zu Hause mit dem Fahrrad zum Spiel gefahren, das war im nächsten Ort: SC Zeilitzheim gegen SV Rügshofen. Als ich am Platz ankam, sagte mir jemand, ich sei zu spät, das Spiel hätte schon angefangen. Ich habe darauf erwidert, dass ich erst für das nächste Spiel gekommen sei – und der Schiedsrichter wäre.
Seitdem sind einige Spiele und damit besondere Erfahrungen hinzugekommen…
Bauer: Das kann man wohl sagen. Zu meiner Anfangszeit war das alles noch ganz anders geregelt. Damals hat mir der Schiedsrichter-Obmann immer Blankokarten für meine Einsätze gegeben und gesagt: „Guck am Samstagmorgen in die Zeitung und suche dir ein Spiel aus!“ So habe ich es gemacht. Wenn das Wetter gut war, habe ich mir ein Spiel ausgesucht, das etwas weiter weg lag, und bei Regen eben eins im nächsten Dorf. In Zeilitzheim gab es 2,10 Mark Spesen, darin waren fünf Pfennig pro Kilometer für die Anfahrt mit dem Fahrrad enthalten.
Sie müssen Ihren Job als Unparteiischer ganz gut gemacht haben, schließlich sind Sie bis zur Regionalliga als Linienrichter eingesetzt worden, das war damals die zweite Spielklasse!
Bauer: Ja, meine Bewertungen waren meistens positiv, sodass ich noch als junger Schiedsrichter recht schnell dort eingesetzt wurde. Ich war ja erst 17, als ich in der Regionalliga beim Spiel Schweinfurt 05 gegen Darmstadt 98 als Linienrichter im Einsatz war – da waren 15.000 Zuschauer im Stadion. Mir kam auch zugute, dass ich sehr regelsicher war, weil ich schon früh mit 17 Jahren – als damals jüngster Lehrwart im DFB – als Gruppen-Lehrwart der Schiedsrichtergruppe Gerolzhofen angefangen habe. 2006 bin ich nach 40 Jahren als dienstältester Lehrwart im DFB von diesem Amt zurückgetreten und bin als Ehrenlehrwart der Schiedsrichtergruppe Gerolzhofen ausgezeichnet worden.
Wann haben Sie als Aktiver aufgehört und sich voll auf Ihre Rolle als Spielleiter konzentriert?
Bauer: Das war 1972, mit 23 Jahren. Ich habe meistens Rechtsaußen gespielt, weil ich sehr schnell war. Ich habe ja als junger Bub schon neben dem Fußball mit der Leichtathletik angefangen und bin mit 18 die 100 Meter in 11,0 Sekunden gelaufen. Weil ich den Gegenspielern immer weggelaufen bin, haben sie mich gerne von den Beinen geholt, sodass ich regelmäßig die Knie aufgeschlagen hatte. Da habe ich mir gesagt, jetzt hörst du auf und machst nur noch den Schiedsrichter.
Was haben Sie beruflich gelernt?
Bauer: Ich wollte gerne Sportreporter werden, aber meine Eltern hatten in Gerolzhofen ein Lebensmittel- und Sportgeschäft. Mein Vater ist aber schon früh gestorben, da war ich erst 15, und meine Mutter hat gesagt: „Du übernimmst später den Laden!“ So bin ich zu meinem Spitznamen „adidas – puma“ gekommen, das waren ja die führenden Marken damals. Ich habe aber nach der Schule erst einmal eine Ausbildung als Großhandelskaufmann abgeschlossen und mich später zum Bilanzbuchhalter weitergebildet.
Wie kam es denn dazu, dass Sie später sogar ein Spiel der großen Bayern leiten durften?
Bauer: Das war anlässlich meines 1000 Einsatzes als Schiedsrichter. Die Bayern waren am 30. Juli 1995 zu einem Jubiläumsspiel in Kitzingen zu Gast, mit Weltmeistern und Champions-League-Siegern wie Oliver Kahn, Klaus Augenthaler, Jürgen Klinsmann und Mehmet Scholl. Otto Rehhagel war gerade als Trainer neu vorgestellt worden, und „Klinsi“ machte in Kitzingen sein erstes Spiel für die Bayern. Solch ein Highlight wollten viele Schiedsrichter aus der Region leiten, aber ich hatte einen Fürsprecher beim Fußballkreis Würzburg, der mich, weil es das 1000 Spiel war, für das Spiel eingeteilt hat.
Und, wie war’s?
Bauer: Als Schiedsrichter eine leichte Aufgabe, da gab es nicht viel zu tun. Die Bayern haben locker mit 16:1 gewonnen, aber das ganze Drumherum mit 12.000 Zuschauern im Stadion am Sickergrund war schon beeindruckend. Rund um die Partie gab es ein paar schöne Anekdoten, die mir bis heute gut in Erinnerung geblieben sind. In einer spielt Uli Hoeneß die Hauptrolle, in einer anderen Mehmet Scholl und in weiteren Jürgen Klinsmann…
Erzählen Sie bitte!
Bauer: Mehmet Scholl hat mich ein bisschen durcheinandergebracht, weil er ein paarmal „Schiri, Schiri“ gerufen hat. Ich habe ihn gefragt, was er denn von mir wolle, doch er hat mich nur verständnislos angeguckt. Er meinte Ciriaco Sforza, Spitzname „Ciri“ (lacht). Und von Klinsmann habe ich nachher ein Autogramm bekommen, ohne dass ich ihn extra darum bitten musste. Als Kapitän musste er ja den Spielberichtsbogen unterschreiben, den habe ich vom Verband geschenkt bekommen und der eingerahmt in meinem Arbeitszimmerhängt.
Und was war mit Uli Hoeneß?
Bauer: Nach dem Abpfiff wollte ich den Spielball gerne als Andenken behalten, aber auf dem Weg zur Kabine hat mich Uli Hoeneß abgefangen und mir den Ball weggenommen, es wäre schließlich ein Ball des FC Bayern München.
Und die anderen beiden Anekdötchen?
Bauer: In der einen ging es um Alexander Zickler. Meine Kollegin Tanja Fröhlich habe ich als Linienrichterin eingeteilt – und die schwärmte für Alexander Zickler. Als die Bayern einen Eckball hatten und Zickler den gerade ausführen wollte, hat sie ihn angesprochen: „Herr Zickler, der Ball muss im Kreis liegen!“. (lacht)
Einer geht noch…
Bauer: Die Lokalzeitung schrieb am anderen Tag, dass Fans extra aus England zum Spiel nach Kitzingen gekommen wären, um Jürgen Klinsmann zu sehen. Der war ja gerade erst von Tottenham Hotspur zu den Bayern gewechselt. Die erwähnten Fans aus England aber waren meine Schwester und ihr Mann. Sie lebten zu der Zeit in England und sind auf Heimatbesuch gekommen, ich hatte ihnen Karten für das Spiel in Kitzingen besorgt.
Was haben Sie aus 60 Jahren als Schiedsrichter sonst noch auf Lager?
Bauer: So einiges! Am 2. Juli 1993 habe ich ein Vorbereitungsspiel des 1. FC Nürnberg beim SV Heidingsfeld geleitet. Damals war gerade die Regel neu eingeführt worden, nach der ein Torwart bei einem gezielten Rückpass den Ball nicht mehr in die Hand nehmen durfte. Genau das ist aber passiert, und zwar dem Andi Köpke. Sprich: Er hat den Ball nach einem Rückpass aufgenommen. Was sollst du da als Schiedsrichter und Lehrwart machen? Kleinlich abpfeifen, und am nächsten Tag steht in der Zeitung: Schiri Bauer erklärt Nationalkeeper Köpke die neue Rückpassregel? Habe ich natürlich nicht gemacht, sondern weiterspielen lassen.
Das zeugt von Größe! Sie sind ohnehin ein Spielleiter, der bei den Akteuren gut ankommt, und das bis heute. Trotz des großen Altersunterschieds zu den Kickern, oder?
Bauer: Ich denke schon, denn ich versuche, nicht kleinlich zu sein oder mich in den Mittelpunkt zu stellen. In 60 Jahren als Schiedsrichter habe ich daher auch nur ganz wenige Rote Karten verteilt, aber einmal musste es sein.
Was war passiert?
Bauer: Da hat ein Spieler dem anderen mit dem Finger an die Nase gefasst, so als ob er darin bohren wollte. Das hatte er tags zuvor in der Bundesliga gesehen, wie Oliver Kahn das mit Miroslav Klose, damals bei Werder Bremen, gemacht hat. Der Schiedsrichter hat bei Kahn weiterlaufen lassen, aber ich habe Elfmeter gegeben und den Spieler vom Platz gestellt. Natürlich hat der sich aufgeregt und gerufen: „Was ist denn jetzt los, der Kahn hat doch auch nicht gekriegt!“ Da habe ich ihn gefragt: „Heißen Sie Kahn?“
Fast ebenso lange wie als Schiedsrichter sind Sie als Funktionär ehrenamtlich am Ball. In dieser Eigenschaft haben Sie viele weitere Fußballgrößen kennenlernen dürfen…
Bauer: Ob Uwe Seeler, Dettmar Cramer, Rainer Calmund, Felix Magath, Horst Hrubesch oder Philipp Lahm: Das waren immer sehr schöne Momente für mich. Einmal hatten wir einen BFV-Verbandstag in Bad Gögging, da kam Jürgen Klopp vorbei. Zu der Zeit war er noch Trainer von Mainz 05, die haben in der Nähe ihr Trainingslager abgehalten. Damals hatte ja keiner gedacht, dass er solch eine Laufbahn hinlegen würde.
Wie lange wollen Sie denn noch weitermachen?
Bauer: Als Funktionär höre ich am 26. November nach 56 Jahren auf, aber als Schiedsrichter werde ich noch ein bisschen weitermachen. Zu meinem 70. Geburtstag hat mir meine Frau, der ich für das Verständnis für mein Hobby sehr dankbar bin, ein schönes Geschenk gemacht, denn da durfte ich morgens um 9 Uhr ein Jugendspiel pfeifen. Jetzt habe ich das 3.333 Spiel hinter mir, natürlich alle schön säuberlich in einer Excel-Liste aufgelistet, denn ich bin ja ein ordentlicher Buchhalter. (lacht) Ich fühle mich noch fit, da ich mich in meinem gesamten Leben immer viel bewegt habe, das hält jung. Wie lange genau ich noch pfeifen werde, kann ich nicht sagen, es muss die Gesundheit mitspielen, aber wenn die Jungs auf dem Platz sagen: „Wir können ruhig Foul spielen, der Alte mit der Pfeife bemerkt das sowieso nicht mehr“ – dann wäre es Zeit, aufzuhören.
Das Interview führte Günter Schneider