Im Jahr 2005 hat der TSV Hohenbrunn aus dem Landkreis München als erster Verein in Bayern eine eigene Inklusionsmannschaft gegründet. Seitdem sind diesem Beispiel mehr als 40 Klubs aus dem Freistaat gefolgt. Dennoch steckt der Inklusionsfußball noch in den Kinderschuhen – obwohl das Potenzial riesig ist. Allein in Bayern gibt es knapp 1,2 Millionen Menschen mit Behinderung, deren Organisationsgrad im Sport aktuell aber lediglich acht Prozent beträgt. Warum eigene Inklusionsfußballmannschaften, in denen Menschen mit und ohne Behinderung in einem Team gemeinsam Fußball spielen, Normalität sein sollten, worauf es bei der Gründung einer Mannschaft ankommt, welche Stolpersteine lauern und welche Unterstützung der Bayerische Fußball-Verband (BFV) bietet, zeigen die beiden Inklusionsprojekte "Etzel Tigers" der mittelfränkischen SpVgg Etzelskirchen und die "OBO-Ollstars" der Offenen Behindertenarbeit Oberfranken in Coburg.
Die Geburtsstunde der "Etzel Tigers" schlug 2019. Weil die Begeisterung ihres körperlich beeinträchtigten Sohns Julius für den Fußball riesig war, er es aber in regulären Fußballteams nicht leicht hatte und es in der Region keine entsprechenden Angebote gab, reifte in Maria und Andy Alt-Kraus die Idee, gemeinsam mit dem örtlichen Sportverein eine eigene Inklusionsfußballmannschaft zu gründen. Ein Vorschlag, der bei Edgar Litz, dem zweiten Vorsitzenden der SpVgg Etzelskirchen, sofort auf offene Ohren stieß, da dieser selbst Kinder mit Einschränkungen hat. „Unser Sohn Julius ist fußballverrückt und wollte unbedingt in einer Mannschaft spielen. Deshalb haben wir nach einem Verein gesucht, damit er seinem Hobby nachgehen kann. Die SpVgg Etzelskirchen hat einen Trainer für diesen Bereich gesucht und ich eine Mannschaft. Volltreffer!“, beschreibt Andy Alt-Kraus das perfekte Zusammenspiel. Der Grundstein für eine Erfolgsgeschichte war gelegt.
Die treibende Kraft hinter den OBO-Ollstars ist Ulrike Luthardt, Lehrkraft an der Fachschule für Heilerziehungspflege in Coburg. Bereits im Jahr 2009 war in der Offenen Behindertenarbeit Oberfranken die Idee gereift, eine Inklusionsfußballmannschaft zu gründen – und hatte in der fußballbegeisterten Ulrike Luthardt, die damals bei OBO ein Praktikum absolvierte, die passende Person zur rechten Zeit am richtigen Ort, um die Idee Realität werden zu lassen. „Als die damalige Leitung, Stefan Kornherr, mit dem Gedanken an mich herantrat, eine eigene Inklusionsfußballmannschaft aufzubauen, war ich sofort Feuer und Flamme. Meine Begeisterung für den Fußball mit dem Spaß an der Arbeit mit Menschen mit Behinderung zu vereinen: Das war eine großartige Kombination“, erklärt Luthardt, die bis heute ehrenamtlich als Trainerin bei den Ollstars aktiv ist und von der integrativen Kraft des Fußballs schwärmt. Denn der schafft es, Menschen mit und ohne Behinderung in ihrer Leidenschaft zu vereinen: „Es sollte selbstverständlich sein, Menschen mit und ohne Behinderung gemeinsam auf dem Platz zu sehen“, sagt Luthardt.
Aber bevor in Etzelskirchen und Coburg der Ball rollen konnte, mussten zunächst einmal wichtige Fragen geklärt und die entsprechenden Strukturen geschaffen werden. Wie muss ein Training gestaltet sein, das sich an Menschen mit und ohne Beeinträchtigung richtet? Was muss man beachten, wenn Kinder und Jugendliche gemeinsam mit Erwachsenen in einem Team spielen? Welche Besonderheiten gibt es im Umgang mit behinderten Menschen? Und: Wie finde ich überhaupt interessierte Spielerinnen und Spieler?
Andy Alt-Kraus drückte zunächst die Schulbank, absolvierte eine Schulung bei der Lebenshilfe Erlangen und nahm an der Trainerfortbildung zum Inklusionsfußball teil, die der Bayerische Fußball-Verband (BFV) einmal im Jahr an der Sportschule Oberhaching anbietet. Er war begeistert: „Der BFV hat uns in den Anfangstagen unglaublich unterstützt und uns Trainern wichtiges Handwerkszeug für die Trainingsarbeit vermittelt. Kristina Höhn und Frank Schweizerhof sind bis heute wichtige Ansprechpartner für uns geblieben. Ihr Engagement zeigt auch, welch‘ hohen Stellenwert die Themen Soziales und Inklusion beim Bayerischen Fußball-Verband genießen“, erklärt Andy Alt-Kraus.
Berührungsängste mit dem Thema Inklusion muss niemand haben. „Von den Trainern und Trainerinnen einer Inklusionsmannschaft wird keine spezielle Ausbildung verlangt. Voraussetzung ist lediglich ein gewisses Maß an Einfühlungsvermögen und eine entsprechende Gestaltung des Trainings, sodass alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf ihrem individuellen Niveau gefördert werden. Wichtig ist, dass alle Beteiligten die Sache ohne Leistungsdruck angehen. Der Spaß soll im Vordergrund stehen“, erklärt Frank Schweizerhof, der beim BFV für den Bereich Soziales verantwortlich zeichnet: „Für die Menschen mit Behinderung ist es das Größte, Fußball spielen zu können. Menschen ohne Behinderung lernen, Berührungsängste abzubauen und mit den Stärken und Schwächen anderer umzugehen. Die Trainerinnen und Trainer genießen die pure Freude der Sportlerinnen und Sportler am Fußball und die Vereine haben ein vorbildliches Sportangebot, das neue Mitglieder bringt und in der Öffentlichkeit große Aufmerksamkeit erzeugt. Letztlich gewinnt das Wir.“
Nach der erfolgreichen Trainerfortbildung begann die Suche nach Spielerinnen und Spielern. Die Etzels Tigers nutzten dabei sowohl soziale Medien wie Facebook als auch klassische Wege wie das Amtsblatt der Gemeinde, um Werbung für ihr Inklusionsangebot zu machen. Und der Andrang war von Anfang an groß. Elf Spielerinnen und Spieler – darunter Alt-Kraus‘ Sohn Julius – waren von Beginn an dabei. Heute stehen Woche für Woche 23 begeisterte Menschen auf dem Platz und leben gemeinsam ihre Leidenschaft für den Fußball. Schnell war auch aus den Reihen des Vereins in Benny Brendel ein zweiter Trainer gefunden, der für das neue Angebot brannte. „Bei uns steht auch weiterhin der Spaß am Spiel und das Gemeinschaftserlebnis im Vordergrund. Aber weil wir jetzt als Trainer-Duo agieren können, bleibt auch Zeit für die individuelle fußballerische Weiterentwicklung der Spielerinnen und Spieler, die unterschiedliche physische und koordinative Fähigkeiten mitbringen“, erklärt Alt-Kraus, den vor allem der Teamspirit und das gelebte Miteinander begeistern. „Bei uns spielen auch elf Kinder und Jugendliche, die keine Einschränkungen haben. Sie sind großartige Menschen und Vorbilder. Sie bekommen es zu Hause vorgelebt, dass alle Menschen gleich sind, und setzen das um. Das ist in diesem Alter schon etwas ganz Besonderes.“ Ganz bewusst bindet das Trainer-Duo diese Vorbilder deshalb auch aktiv in die Trainingsgestaltung ein. Sie haben die Aufgabe, sich Übungen auszudenken und im nächsten Training umzusetzen.
Auch in Coburg fand sich schnell ein fester Stamm von 15 bis 20 Spielerinnen und Spielern, die über die Jahre zu einer eingeschworenen Gemeinschaft zusammengewachsen sind. „Unsere Mannschaft war von Anfang an sowohl für Menschen mit als auch ohne Behinderung gedacht. Wir wollten keine reine Mannschaft für Menschen mit Behinderung, sondern eine gemischte Gruppe von Menschen, die Spaß am Fußball hat, aber vielleicht nicht in Vereinen spielen können oder möchten“, erklärt Ulrike Luthardt. „Jeder hat andere Stärken, jeder hat andere Schwächen, von klein bis groß, von jung bis erwachsen. Doch was zählt ist der Zusammenhalt und die Freude am Fußball.“
Doch trotz aller Fortschritte klafft in Deutschland beim Thema Inklusion eine riesige Lücke zwischen Angebot und Nachfrage: „Es wird zu wenig dafür getan, attraktive Inklusionsangebote vor Ort zu schaffen. In München gibt es beispielsweise verhältnismäßig viele Inklusionsmannschaften, aber abseits der großen Städte und Ballungsräume ist das Thema eher ein Tabu in vielen Vereinen und in der Gesellschaft. Deutschland ist hier absolut im Hintertreffen“, erklärt Alt-Kraus. Dabei ist vor allem der Fußball wie gemacht für Inklusion: Er erfordert keine teure Ausrüstung oder spezielle Einrichtungen. Ein Ball und ein freies Spielfeld reichen aus, um spielen zu können. Das macht den Einstieg leicht. Auch wenn es nach wie vor keinen regelmäßigen Spielbetrieb für Inklusionsmannschaften gibt.
„Wir haben inzwischen unsere Kontakte, jedoch gibt es im Umkreis von 30 Kilometern keine weitere Inklusionsmannschaft. Deshalb ist es auch schwierig, einen Ligabetrieb auf die Beine zu stellen, weil die Entfernungen für regelmäßige Spiele zu groß sind.“ Seit 2022 nehmen die Etzels Tigers deshalb regelmäßig gemeinsam mit anderen Inklusionsteams aus Bayern an Turnieren teil, bei denen der Spaß und nicht der Erfolg im Vordergrund steht. Die Spielerinnen und Spieler sind glücklich, auf dem Platz zu stehen und am Ende eine Medaille zu erhalten. „Ob sie nun Fünfter oder Erster werden, spielt für die Kinder keine Rolle, ebenso wenig wie für uns Trainer“, sagt Andy Alt-Kraus.
Die OBO-Ollstars sind da schon einen Schritt weiter. Weil es auf Dauer schlicht zu langweilig war, sich immer nur im internen Trainingsbetrieb zu duellieren, hat die Coburger Einrichtung der Offenen Hilfen gemeinsam mit dem TSV Dörfles-Esbach, der TSG Niederfüllach, dem TSV Rossach, dem TSV Scherneck die Quattro Liga ins Leben gerufen. Die Spieler der OBO-Ollstars und des FC FED Olé können sich an einem Scouting Day ihr Team selbst aussuchen, für das sie in der kommenden Spielrunde an den Start gehen möchten. Hierdurch schnuppern die Spielerinnen und Spieler mit Behinderung „echte Vereinsluft“. So mancher Spieler fand dadurch in einem der Quattro-Liga Vereinen Anbindung durch Trainings- und Spieleinsätze im regulären Spielbetrieb. „Die Quattro Liga ist ein inspirierendes Beispiel für die verbindende Kraft des Sports und zeigt, dass unsere Vereine offen sind für das Thema Inklusion. Egal ob mit einer eigenen Mannschaft oder eben wie in diesem Fall mit Kooperationen und Spielangeboten“, erklärt Frank Schweizerhof.
Auch der Bayerische Fußball-Verband bietet regelmäßig in ganz Bayern attraktive Wettbewerbe speziell für Inklusionsmannschaften an. Für ambitionierte Mannschaften richtet der BFV seit 2022 die offizielle Bayerische Inklusions-Fußballmeisterschaft (Kleinfeld) für Inklusionsteams und reine Handicap-Mannschaften aus. In diesem Jahr werden am 12. Oktober bei der gemeinsam mit dem 1. FC Nürnberg organisierten Meisterschaft wieder 28 Mannschaften mit etwa 300 Sportlerinnen und Sportlern aus ganz Bayern um den Titel spielen. Parallel dazu findet am Valznerweiher auch der BFV-Inklusions-Cup auf dem Kleinfeld statt, bei dem nicht das Ergebnis, sondern der Spaß am Spiel im Vordergrund steht. Regelmäßige Events mit Highlight-Charakter wie beispielsweise 2015 und 2019 im Rahmen der Fußballiade in Landshut, 2016 in Kooperation mit der DFB-Stiftung Sepp Herberger und der Stiftung Allianz für Kinder im Rahmen einer Mini-EM in der Allianz Arena oder der Inklusionstag in der Fan Zone im Münchner Olympiapark während der EURO 2024 runden das breite Angebot ab.
Um das Thema Inklusion weiter voranzubringen, kooperiert der BFV auf Landesebene mit Special Olympics Bayern, der Lebenshilfe Bayern sowie dem Behinderten- und Rehabilitations-Sportverband Bayern und bietet regelmäßig Vereins-Infoabende und Fortbildungen für Vereine an, die mit dem Gedanken spielen, eigene Inklusionsangebote anzubieten.
Frank Schweizerhof hofft, dass mehr bayerische Klubs den positiven Beispielen aus Etzelskirchen und Coburg folgen – nicht zuletzt, weil auch die Vereine selbst von einem Inklusionsangebot profitieren: „Die Aufwertung und öffentliche Anerkennung der Vereine durch das Thema Inklusionssport sind offensichtlich. Wir helfen gerne jedem interessierten Verein, Kontakt mit erfahrenen Inklusionsteams aufzunehmen.“