Der renommierte Sport- und Präventionsexperte Prof. Dr. Ingo Froböse von der Deutschen Sporthochschule Köln warnt vor den drastischen Folgen der Sporteinschränkungen durch die Corona-Pandemie. Vor allem Kinder und Jugendliche sind von der Schließung der Sportstätten betroffen, weitreichende Folgen sind bereits jetzt zu erkennen. Im Interview spricht Froböse darüber, was die Politik sofort ändern muss - und wie ihm eine neue Studie große Hoffnung auf eine baldige Rückkehr des Sports macht.
Herr Froböse, was bedeutet die aktuelle Situation für den Sport?
Prof. Dr. Ingo Froböse: Ich finde es höchst problematisch, dass der Sport, der sonst immer mit großer gesundheitlicher Relevanz verbunden wurde, aktuell in eine Ecke gedrängt wird. Die Politik sagt, es sei höchst gefährlich, in der aktuellen Situation Sport zu treiben. Dadurch leidet der Sport unter einem Image- und Attraktivitätsverlust. Das macht mir große Sorge. Vor allem, weil das mit in die Familie hineingetragen, und der Sport hier nun völlig anders betrachtet wird. Diese Sportabstinenz führt wiederum dazu, dass sich Kinder andere Beschäftigungen suchen. Kinder müssen spielen, doch die Spiele finden dank der Pandemie nicht mehr körperlich, sondern vielmehr digital statt.
Der Lockdown wurde beschlossen, um die Gesundheit zu schützen. Wenn man sich Ihre Ausführungen anhört, macht es eher den Eindruck, dass wir auf den Sport bezogen genau das Gegenteil bewirken.
Froböse: Die Zahlen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die aus Nichtaktivität in den letzten Jahren immer größer geworden sind, sind schockierend. Schauen wir auf die "Diabetes-Pandemie" hier in Deutschland: Täglich sterben bundesweit ca. 300 Menschen an den Folgen von Diabetes Typ 2. Diabetes ist eine klassische lebensstilbedingte Erkrankung. Dazu kommen Bluthochdruck, Übergewicht usw. - Erkrankungen, die sich hierzulande immer stärker verbreiten. Das ist für mich als Sport- und Präventionsexperte erschreckend, denn hier ist eine viel größere Pandemie unterwegs als die, die wir gerade bekämpfen. Wir erleben eine Bewegungsmangel-Pandemie mit gravierenden Folgen. Das wird unser Gesundheitssystem in den kommenden Jahren komplett überlasten. Das heißt, wir verschärfen aktuell mit der vorherrschenden Pandemie akut andere chronische Erkrankungen.
Beeinflusst regelmäßige Bewegung das Risiko, eine schwere Corona-Infektion zu erleiden?
Froböse: Das wurde lange nur vermutet, jetzt ist es aber bestätigt worden. Eine neue US-Studie belegt, dass regelmäßiger Sport das Risiko einer schweren Corona-Erkrankung bzw. eines Todes durch Covid-19 bei Erwachsenen stark reduziert. Daher gilt mein Appell erneut der Politik, die Förderung körperlicher Aktivität gerade zu Pandemiezeiten endlich in den Fokus zu rücken, statt komplett brach zu legen.
Welche körperlichen Auswirkungen machen sich bei Kindern und Jugendlichen schon jetzt bemerkbar?
Froböse: Definitiv die soziale Verarmung. Kontakte, die Kinder sonst im Sportverein geknüpft haben, werden derzeit in eine digitale Welt verlagert, während die rein körperliche Welt verloren geht. Damit einher geht die geistige Entwicklung. Wenn beispielsweise nur in Familien gelernt, gearbeitet und gelebt wird, gehen kindliche Prozesse, die üblicherweise mit Gleichaltrigen erlebt werden, verloren. Des Weiteren entstehen Aggressivitätspotentiale, die sich aus dem ständigen Aufeinandersitzen zu Hause ergeben und normalerweise ideal durch Sport abgebaut werden können. Natürlich leidet auch die gesamte Emotionalität: Freude, spielen, lachen, gewinnen. Das fehlt den Kindern ungemein und genau diese Erfahrungen müssen sie im Kindesalter machen.
Viele Eltern berichten von traurigen Kindern, denen Ausgleich, Freunde und Spaß im Leben fehlen, die der Sport ihnen sonst gegeben hat. Klingeln bei Ihnen als Experte die Alarmglocken, wenn sie sowas hören?
Froböse: Meine Alarmglocken schrillen schon ganz lange. Ich habe immer erkannt, dass Bewegung eben deutlich mehr ist und das Ansteckungsrisiko bei organisierter Bewegung, wie es im Sportverein super stattfinden kann, gegen Null tendiert. Was wir Kindern und Jugendlichen aufbürden, und welche Entwicklungsschritte ihnen dadurch fehlen, ist besorgniserregend. Ich höre von vielen Eltern, wie sehr ihre Kinder die derzeitige Situation belastet. Mit der Schließung der Sportstätten bürden wir den jungen Menschen eine große Last auf, die sie später ausbaden werden. Dementsprechend sollten die Alarmglocken in der ganzen Nation schrillen.
Welche Auswirkungen beobachten Sie in ihrem Umfeld, seit die Sportanstalten dicht sind?
Froböse: Ich bekomme tagtäglich Nachrichten, in denen sich viele Menschen Gedanken machen, um endlich wieder spielen zu können. Sie haben Strategien und Konzepte entworfen, viel investiert und wollen zurück in ihren Verein. Hier ist das Ehrenamt beispielhaft für viele tolle soziale Entwicklungen in Deutschland. Das Ehrenamt setzen wir gerade aufs Spiel. Wir entwurzeln es, weil wir den Ehrenamtlern ihre Tätigkeit und ihr Engagement wegnehmen. So haben wir einerseits die Kinder und Jugendlichen, die nicht spielen dürfen, andererseits auch die Ehrenamtler, denen wir ihre Heimat, ihren Lebensinhalt genommen haben. Wir lösen gerade eine ganze soziale Struktur auf. Die Vereine machen in diesem Punkt eine tolle Arbeit und für umso schlimmer empfinde ich es, dass das nicht auf der Agenda der Politik steht.
Sie sprechen es an: Nicht nur körperlich weitreichende Folgen sind zu beobachten. Auch für die mentale Gesundheit ist die sportliche Betätigung ein wichtiger Ausgleich, insbesondere für junge Menschen. Wie sehr sind Sie diesbezüglich besorgt?
Froböse: Die kindliche Entwicklung ist in den ersten sechs Jahren dadurch geprägt, dass Kinder unterwegs sind, sich bewegen, Persönlichkeitsmerkmale und das Gehirn entwickeln. Heißt: Kindliche Entwicklung muss durch Körperprägung entstehen, sonst haben wir langfristig ein Problem. Wenn man Spielen in jungen Jahren nicht lernt und Dinge wie Sieg oder Niederlage, Freund oder Feind, Respekt, Fairness oder Verantwortung nicht erlernt, ist das schlecht für die Entwicklung, denn es sind Dinge, die die Persönlichkeit prägen und Emotionen beeinflussen. Wenn diese Komponenten von Klein auf ungeschult bleiben, werden die Kinder Defizite in physischer und sozialer Entwicklung erfahren. Körperliche Betätigungen, vor allem Spielsport wie Fußball, sind dafür geeignet, soziale Werte zu erfahren, die im späteren Leben eine gesellschaftliche Relevanz besitzen. Wenn wir diese Werte im Kindesalter nicht vermitteln, werden wir später eine Generation von Individualist*innen entwickeln.
Sind bestimmte Gruppierungen von der fehlenden Bewegung besonders betroffen?
Froböse: In der heutigen Zeit werden schon in jungen Jahren chronische Erkrankungen produziert. Es gab noch nie so viele Kinder, die an Diabetes Typ 2 leiden, wie in den letzten drei bis fünf Jahren. Diese Entwicklung verschärft sich durch die Pandemie. Grund dafür ist Fehlernährung, die sich z.B. auf das Knochen- oder muskuläre System auswirkt, was sich wiederum auf alle Entwicklungsschritte ausprägt. Natürlich betrifft die Pandemie deswegen Kinder mit Leistungseinschränkung wie Adipositas, chronischer Erkrankung oder Behinderung in einem größeren Ausmaß. Wenn der Sport für diese Gruppen ausfällt, werden ihre Probleme immer größer. Grund dafür ist der schnellere Verlust ihrer Leistungsfähigkeit, denn für diese Kinder ist Bewegung eine notwendige Therapie.
Sie fordern ein umgehendes Handeln der Politik. Was muss Ihrer Meinung nach passieren?
Froböse: Die Politik sagt immer: "Jetzt muss was passieren", aber gehandelt wird kaum. Ich habe das Gefühl, dass die Bedürfnisse der Gesellschaft nicht akzeptiert werden. Ich würde mir wünschen, dass sportliche Bewegung eine Stimme bekommt. Dass die Werte, die der Sport für die Gesellschaft hat, wie im Profisport auch, beachtet werden. Und ich wünsche mir sofort eine Kampagne, die Bewegung fördert und sich für die Wertigkeit des Sports und der Gesundheit einsetzt. Damit wünsche ich mir eine völlige Umkehr der Denkweise. Wir müssen an einem Strang ziehen, sonst hat der Sport verloren. Und das darf nicht passieren!
Es führt also kein Weg an der Öffnung der Sportstätten vorbei.
Froböse: Die Antwort, diese Krise zu bewältigen, liegt bei den Menschen. Um diese Gesundheitskrise einigermaßen unbeschadet zu überstehen, ist Sport und Gemeinnützigkeit die Lösung. Die Impfung ist ein Werkzeug. Viel wichtiger ist es, das Leben und Lachen in die Gesellschaft zurückzubringen.
Quelle: DFB/fk