Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH) sehen die Friedleins aus Bayreuth nicht unbedingt als Niederlage, sondern vor allem als wichtigen und nötigen Schritt, sich für die Rechte und Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen in der Corona-Pandemie einzusetzen. Denn die kommen ihrer Meinung nach viel zu kurz. Und sie sprechen aus eigener Erfahrung: Das Juristen-Ehepaar hat zwei Söhne. Die beiden 12 und 13 Jahre alten Jungs sind normalerweise in Sportvereinen aktiv. Paul, der ältere, spielt bei der SpVgg Bayreuth Fußball, Leo ist Spieler des BBC Bayreuth, Stammverein des Basketball-Bundesligisten medi Bayreuth. Die bfv.de-Redaktion spricht mit Mutter und Rechtsanwältin Constance und Vater Rainer, Richter am Bayreuther Familiengericht, über die Hintergründe der Klage, ihre Anliegen und Wünsche.
Frau Friedlein, Herr Friedlein, bevor wir in die Thematik des von ihnen angestrengten Verfahrens am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof einsteigen, macht es Sinn, zeitlich an den Beginn der Corona-Pandemie zu springen. Zum einen, um die Hintergründe besser zu verstehen, zum anderen, um auch gleich einer möglichen Einordnung als „Verharmloser“ oder Corona-Leugner vorzubeugen. Wie hat sich denn die Situation damals in ihrer Familie dargestellt?
Constance Friedlein: Da unterscheiden wir uns nicht groß von den meisten anderen Familien mit sportbegeisterten Kids. Vor der Pandemie sah der familiäre Alltag so aus, dass mein Mann und ich ganz normal berufstätig waren und unsere Söhne nach der Schule ihre Freizeit und Leidenschaft vor allem in ihren jeweiligen Sport gesteckt haben. Fußball und Basketball – darum hat sich ihr Leben gedreht. Mit allem, was dazugehört. Die Bewegung, das Training, die Wettkämpfe und der Großteil ihrer sozialen Kontakte und Freundschaften. Dann kam der erste Lockdown mit seinen Einschränkungen und von einem Tag auf den anderen ist vieles davon weggebrochen. Aber es war vollkommen klar, dass wir alle die Einschränkungen und Maßnahmen mittragen.
Im vergangenen Sommer kehrte ja auch ein Stück Normalität zurück.
Rainer Friedlein: Richtig. Die Durststrecke war natürlich insbesondere für die Kinder sehr lang. Und die Zeit war mit vielen Veränderungen und Anpassungen verbunden. Sie konnten ja auf einmal nicht mehr ihren Sport ausüben, der einen Großteil ihres Lebens ausmacht und die sozialen Kontakte sind natürlich auf ein Minimum zurückgefahren. Natürlich haben die beiden genauso wie die meisten anderen Kinder versucht, die vorhandenen Möglichkeiten auszunutzen – Individualsport, das Online-Training der Vereine, die Challenges unter den Mannschaftskollegen. Aber das ersetzt natürlich nicht den gewohnten Sport im Verein.
Constance Friedlein: Als es dann irgendwann hieß, dass erste Lockerungen in Aussicht stehen, ist die Stimmung natürlich sprunghaft gestiegen. Auch wenn die neue Normalität natürlich auch weiterhin mit diversen Einschränkungen verbunden war – Gruppentraining, Hygienekonzept, Spiele ohne Zuschauer. Aber das war für die Jungs überhaupt kein Problem, das alles mitzumachen. Die hat das auch nicht wirklich interessiert, dass keiner zum Platz kam und wir anfangs keinen Kaffee und Kuchen verkaufen konnten. Hauptsache wieder Sport, Hauptsache wieder mit den Freunden auf dem Spielfeld stehen. Die hätten alles gemacht und alle Regeln akzeptiert, nur um wieder ihren Sport und ihr gewohntes Leben zurückzubekommen.
Im Herbst kam dann doch wieder alles anders – auch wenn nicht vollkommen überraschend.
Rainer Friedlein: Das ist richtig. Wobei die Situation dann doch eine andere war und auch die empfundene Wucht der Maßnahmen. Es wurde ja wieder alles auf Null gesetzt. Der Sport und später ja auch wieder die Schule. Relativ schnell war klar, dass die Einschränkungen keine Momentaufnahme sind, sondern länger dauern werden. Und damit fehlte dann neben dem wachsenden Unmut über die Nachvollziehbarkeit einzelner pauschaler Maßnahmen auch die Mut machende Perspektive.
Constance Friedlein: Recht früh war ja klar, dass beispielsweise die komplette Hallensaison wegfällt und dass es nicht ins Trainingslager gehen kann. Das sind für Kinder in diesem Alter ja absolute Highlights und prägende Erlebnisse. Damit meine ich weniger das sportliche, sondern vielmehr das Gemeinschaftserlebnis.
Rainer Friedlein: Spätestens im Herbst haben wir deutlich gemerkt, dass die Situation eine immense Belastung für die Kinder ist, die aber für die politisch verantwortlichen Entscheider in unserem Land scheinbar überhaupt keine Rolle spielt, zumindest aber nicht als sonderlich gravierend eingestuft wird. Nicht zuletzt aus beruflicher Erfahrung weiß ich, dass wir in unserer Familie im Vergleich noch sehr gute Rahmenbedingungen haben. Wir haben einen Garten und einen Hof mit Basketballkorb, wir haben auch keine beengten Wohnverhältnisse. Es gibt also Möglichkeiten, die immense Belastung durch den Distanzunterricht, bei dem die Kinder stundenlang vor dem Rechner sitzen müssen, ein wenig zu kompensieren. Aber wir sehen, dass es auch unter diesen guten Bedingungen spürbare Veränderungen und letzten Endes Probleme gibt. Man muss kein Hellseher sein, um zu wissen, dass die Belastung, der psychische Druck bei vielen Kindern und Jugendlichen mit schlechteren Rahmenbedingungen noch deutlich größer ist. Das mag man sich besonders als Eltern kaum ausmalen. Das zeigt ja auch die COPSY-Studie*, auf die wir uns später im Verfahren auch bezogen haben.
Der Bayerische Fußball-Verband hat gemeinsam mit dem DFB zahlreiche Experten gehört und seine klare Position, zumindest das Training für Kinder und Jugendliche wieder zu ermöglichen, wiederholt verdeutlicht – Wissenschaftler, Aerosolforscher und Mediziner. Alle kamen zum gleichen Ergebnis: Sport im Freien ist kein Pandemietreiber, die Ansteckungsgefahr nahezu auszuschließen. Warum wird das von der Politik konsequent negiert?
Constance Friedlein: Das müssen die verantwortlichen Politiker beantworten. Aber genau darum geht es ja. Alle Kriterien gehören für die Beurteilung auf den Tisch. Da gehören die Studien und Meinungen von anerkannten Experten dazu.
Rainer Friedlein: Und wenn die Studien nicht ausreichen, müssen sie entsprechend initiiert werden. Zu jeder Maßnahme gehören immer auch Erfolgskriterien und deren Kontrolle. Sonst ist das Aktionismus.
Wann war der Zeitpunkt, an dem sie gesagt haben: Stopp! Jetzt reicht es! Wir müssen was tun!?
Rainer Friedlein: Grundsätzlich hat das Thema ja in uns gegärt. Ich sehe es beispielsweise durchaus schon lange sehr skeptisch, die Inzidenzwerte als einzige Kenngröße für die Beurteilung bzw. das Inkrafttreten von Maßnahmen heranzuziehen. Das ist ja auch die BFV-Position. Aber man geht ja auch trotzdem bei Vielem mit. Und wir leben in einem Rechtsstaat, da ist eben der Rechtsweg das Mittel, wenn man etwas für falsch hält. Letztlich gab es zwei entscheidende Faktoren: Zum einen das eigene Gewissen: Ich habe mir vorgestellt, wie meine beiden Söhne mich irgendwann fragen: Und was hast du damals unternommen? Und das zweite ist, dass ich mich gefragt habe: Wer, wenn nicht wir als Rechtsanwältin und Richter, soll denn bitte für Gerechtigkeit und Verhältnismäßigkeit einstehen? Es gehört ja schon auch ein wenig Fachwissen dazu, diesen Weg zu beschreiten und da sehe ich uns mit unserem beruflichen Hintergrund schon auch in der Pflicht. Aktiv zu werden, ist für mich ohnehin immer der Weg, um Probleme anzugehen und sie nicht in mich hineinzufressen. Quasi aus Eigenschutz.
Constance Friedlein: Ganz konkret wurde es im März durch die Aktion „Sichtbar!“ der SpVgg Bayreuth, der sich viele andere Vereine angeschlossen haben. Dabei sind Kinder der Vereine und aus unterschiedlichsten Sportarten unter den geltenden Hygienevorschriften in der Bayreuther Innenstadt zusammengekommen und haben sich gezeigt. Dadurch wurden die vielen Kinder überhaupt erstmals im wahrsten Sinne des Wortes in dieser Pandemie sichtbar. Und es war unglaublich berührend zu sehen, wie die ganzen Kinder quasi „aus ihren Löchern gekrochen sind“ und total glücklich waren, ein bisschen mit dem Ball hin- und herzukicken – die Fußballer, die Basketballer, die Hockey- und Eishockeyspieler. Und fast zeitgleich wurde dann auch noch in Bayern – anders als im Rest der Republik – durch eine Wortfeinheit in der Infektionsschutzmaßnahmenverordnung die Altersgrenze für das erlaubte Gruppentraining verschoben. Aus „bis 14 Jahre“ wurde „unter 14 Jahre“, was dazu führte, dass in der betreffenden Altersklasse auf einmal fast die halbe Mannschaft ausgeschlossen wurde. Das war absurd und zeigt, wie realitätsfern – insbesondere bezogen auf den Sport – entschieden wird.
Rainer Friedlein: Das Wissen, dass diese Kinder im Grunde genommen keine Lobby haben, keine echte Möglichkeit des Protestes und am Ende ja auch kein Wahlrecht, um ihre Meinung zu vertreten, hat dann den Ausschlag gegeben, dass meine Frau und ich uns ein Wochenende hingesetzt haben, um stellvertretend für unsere Jungs und die vielen anderen Kinder gegen die Unverhältnismäßigkeit einzelner Maßnahmen vorzugehen.
Was heißt das konkret?
Rainer Friedlein: Wir haben nicht gegen das gesamte Maßnahmenpaket geklagt. Uns geht es ja ganz konkret um die Kinder und Jugendlichen, deren Bedürfnisse bei der Beurteilung der Maßnahmen und Einschränkungen unserer Meinung nach viel zu kurz kommen. Grob gesagt ging es uns darum, den geregelten und geordneten Trainingsbetrieb für die Kinder und Jugendlichen wieder zu ermöglichen.
Wie haben Sie da argumentiert?
Rainer Friedlein: Zum einen haben wir uns bei der Beschreibung des Ist-Zustandes für die Belastung der Kinder und Jugendlichen auf die COPSY-Studie bezogen, zum anderen haben wir mit der gelebten Realität argumentiert. Wir hatten ja schon die Situation, dass das Wetter zwischenzeitlich deutlich besser wurde. Was ist passiert? Natürlich haben die Kinder ihren Bewegungsdrang ausgelebt – auf den Bolzplätzen, in den Parks. Die Sache ist: Das ist nicht erlaubt. Die Sache ist aber auch, dass der Staat keine Handhabe hat, weil er es zum einen nicht wirklich effektiv kontrollieren kann und zum anderen die Kinder selbst auch gar nicht belangen kann. Wir haben also eine absurde und realitätsferne Situation. Deshalb haben wir gesagt, dass es doch viel sinnvoller ist, wenn die Kinder im organisierten Trainingsbetrieb, unter Hygienevorschriften und mit der Möglichkeit der Kontaktnachverfolgung das machen, was sie ohnehin ohne Einhaltung von irgendwelchen Vorschriften auf den öffentlichen Plätzen und in Parks tun. Und da es bei angeordneten Maßnahmen grundsätzlich immer um Verhältnismäßigkeit geht und diese auch immer wieder neu überprüft werden muss, haben wir auch gefragt, welche Kriterien denn erfüllt sein müssen, damit die Kinder wieder spielen dürfen. Eben weil durch die stetig steigende Belastung und der zu erwartenden Folgeschäden diese massive Grundrechtseinschränkung nicht mehr gerechtfertigt ist. Zumal die Entwicklung auch bei den möglichen Maßnahmen bei der Bekämpfung der Pandemie dynamisch ist. Vor ein paar Monaten gab es beispielsweise noch keine Schnelltests. Es geht einfach nicht, dass dies alles keine Rolle für die Beurteilung spielt. Heute wird mindestens zweimal in der Woche in der Schule getestet, warum sollen diese Kinder nicht auch am Nachmittag zusammen Sport treiben können?
Mit welcher Begründung hat das Gericht ihre Forderungen abgelehnt?
Rainer Friedlein: Einfach ausgedrückt hat der Verwaltungsgerichtshof gesagt, dass die Regelungen „gegenwärtig“ so passen und die Einschränkungen rechtens und gerechtfertigt sind. Die COPSY-Studie wurde als derzeit noch zu wenig belastbar eingestuft. Es ist in der Tat so, dass sich die Studie auf eine überschaubare Datenbasis stützt. Die Sache ist nur, dass der Staat selbst bis dato keine entsprechende Studie in Auftrag gegeben hat, um dieses wichtige Mosaikstück in der Corona-Pandemie zu beurteilen. Und auf was soll man sich dann beziehen? Zu den Kriterien bzw. dem zeitlichen „Kipppunkt“ bei den aktuellen Maßnahmen ist gar nichts mehr gesagt worden. Wir waren auch etwas erstaunt, dass dieses Urteil nicht wie viele andere zur Corona-Thematik regulär vom VGH veröffentlicht wurde, sondern komplett in der Schublade verschwunden ist.
Was heißt das jetzt für Sie? Wie geht es weiter?
Constance Friedlein: Nur, weil das Gericht unsere Anträge abgelehnt hat, heißt das nicht, dass wir uns jetzt nicht weiter für unsere Ziele und gerechtere Maßnahmen einsetzen. Wir werden uns jetzt an die Politik wenden. Und es ist ja auch nicht gesagt, dass man mit dem Rechtsweg per se nichts erreichen kann: Der VGH hat durch seine Formulierungen ja auch durchblicken lassen, dass unsere Anträge im Grunde genommen auf Basis der aktuellen Lage abgelehnt wurden. Und die ändert sich ja.
Rainer Friedlein: Auf jeden Fall war es richtig, diesen Weg zu gehen und auch dranzubleiben. Aus Verantwortung der eigenen Kinder gegenüber, aber auch der vielen anderen Kinder und Jugendlichen, deren Ausgangslage sich ja nicht verbessert hat. Uns allen muss klar sein, dass die Zeit drängt. Ich blicke da zum Beispiel schon ein wenig mit Sorge auf die bundeseinheitliche Regelung. Hätte es die schon im März gegeben, hätten wir nicht mal mehr vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof klagen können, da es dann schlichtweg keine rechtlichen Grundlagen bzw. Zuständigkeiten bei den einzelnen Ländern, geschweige denn Kommunen gegeben hätte. Am Ende geht es aber nicht darum, ein Don Quijote für die Kinder zu sein, sondern jeder muss für sich selbst beurteilen, was er zu tun bereit und zu tun im Stande ist. Und wir haben uns im März schlichtweg für diesen Weg entschieden. Wenn wir dazu beitragen können, die Situation öffentlich zu machen und eine breitere Diskussion über diese Verhältnismäßigkeit anzustoßen, war es für uns ein Erfolg.
* Die COPSY-Studie (Corona und Psyche) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf erfasst in regelmäßigen Befragungen die Lebensqualität und psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen während der Corona-Pandemie und kam zuletzt im Februar zu dem Schluss, dass fast jedes dritte Kind ein Jahr nach Pandemiebeginn psychische Auffälligkeiten zeigt und sich der Zustand seit der ersten Befragung verschlechtert hat.