"Spielphilosophie" – ein großes Wort, hinter dem viel mehr steckt als die bevorzugte Grundordnung. Doch gerade im Amateurbereich, wo kein Verein eine bestimmte "DNA" im Stile von Ajax Amsterdam oder dem FC Barcelona vorgeben kann, müssen Trainer*innen auch Kompromisse eingehen, um mit ihrem Team bestmöglich zusammenarbeiten zu können. Wir zeigen, welche Fragen es zu beantworten gilt und wie die subjektiven Trainer*innen-Vorstellungen sich mit den Wünschen der Mannschaft vereinbaren lassen.
Zunächst einmal: Es gibt unzählige Möglichkeiten, erfolgreich Fußball zu spielen. Ganz egal ob Tempo-Gegenstoß-, Ballbesitz-, oder vertikaler Tiki-Taka-Fußball – Hauptsache, der Stil passt zur Mannschaft, und die Spieler*innen können sich mit ihm identifizieren. Dabei spielt auch die Grundordnung noch keine große Rolle. Denn jede taktische Formation lässt sich offensiv wie defensiv interpretieren – auf die Vorgaben kommt es an!
Trainer*innen haben unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sie ihr Team am liebsten spielen lassen wollen. Diese werden natürlich auch ein Stück weit durch die eigene fußballerische Sozialisierung geprägt. Häufig stellen sich unter anderem folgende Fragen: "Was hat mir in meiner aktiven Zeit besonders viel Spaß gemacht? Was hat mir Sicherheit gegeben? Mit welchen Vorgaben konnte ich gar nichts anfangen?"
Aus den Antworten auf diese Fragen sowie natürlich auch aus den aktuellen Vorlieben beim Fußballschauen ergibt sich schon ein Großteil der Idee, mit der Trainer*innen ihr Team auf den Platz schicken wollen. Spezifische Prinzipien und Verhaltensweisen prägen das Bild innerhalb des Rahmens, den die Grundordnung mit der für diesen Spielstil vermeintlich besten Raumaufteilung darstellt.
Was die meisten Menschen am Fußballspiel begeistert, sind natürlich die Tore. Offensiv attraktiver Fußball mit vielen Torabschlüssen steht bei den Fans hoch im Kurs. Daher liegt es auch nahe, dass sich Trainer*innen über die Offensivstrategie zuerst Gedanken machen. Allerdings solltest du dabei nicht den Blick für das große Ganze verlieren. Denn der Fußball ist bedeutend vielschichtiger, und Torraumszenen machen nur einen vergleichsweise kleinen Teil eines 90-minütigen Fußballspiels aus.
Daher ist es wichtig, sich Gedanken über wünschenswerte Verhaltensweisen in allen Phasen des Spiels zu machen. Neben der Frage, wie dein Team Tore schießen soll, solltest du dir also auch die Frage stellen, wie du Gegentore verhindern willst. Und auch hier gibt es mehr zu berücksichtigen, als die bloße Frage nach den Höhen von Pressing- und Verteidigunslinien. Was passiert wenn die Pressinglinie überspielt wird? Soll zwischen den Linien nach vorne verteidigt oder konsequent gedoppelt werden? Und wie verhält sich die Mannschaft, wenn auch noch die letzte Verteidigungslinie überspielt wurde und der Gegner die Tiefe hinter der Kette attackiert?
Pressing ist mehr als das bloße Druck-Ausüben auf den Gegner. Es geht vor allem darum, auch ohne Ball Kontrolle über das Spiel zu übernehmen und den Gegner in bestimmte Zonen zu lenken, in denen das eigene Team wiederum erhöhte Chancen auf einen Ballgewinn hat. Zu diesem Zweck kann ein tiefes Abwehrpressing vom Grundsatz her genauso dienlich sein wie ein klassisches Mittelfeld- oder das moderne Angriffspressing. Hast du dich für eine dieser drei Varianten entschieden, geht es als nächstes um die Frage, ob nach innen oder außen gelenkt werden soll und welche gegnerischen Verhaltensweisen dementsprechend Auslöser für das Pressing deiner Mannschaft sein sollen.
Greift das Pressing nicht, und der Gegner befindet sich zwischen den Linien, gilt in den meisten Fällen vor allem ein Prinzip: "Den Gegner nicht drehen lassen!" Dazu müssen die Verteidiger*innen natürlich nah dran sein und ihre Gegenspieler*innen eng stellen. Es bietet sich eine ideale Ausgangssituation zum Doppeln. Alternativ dazu gibt es aber auch noch eine etwas aktivere und daher auch risikoreichere Art zu verteidigen: Beim "Vorwärts-Verteidigen" sollen Zuspiele, die zwischen den Linien landen, antizipiert und kompromisslos nach vorne verteidigt werden. Das heißt: Anstatt die Gegenspieler*innen zu stellen, wird ein direkter Zweikampf um den Ball eingegangen, um ein möglichst schnelles Umschalten auf Angriff zu ermöglichen.
Schafft es der Gegner, auch noch die letzte Linie zu überspielen und hinter die Abwehrkette zu gelangen, ist "Rückwärtsgang" angesagt. Gerade bei der Strafraumverteidigung gibt es einiges zu beachten. Denn spätestens hier sollte von ballorientierter Raum- auf Manndeckung umgestellt werden. Eine klare Zuteilung ist ebenso wichtig wie zu verdeutlichen, welche und wie viele Spieler*innen sich aus dem Zentrum auf den Flügel rausziehen lassen dürfen, um eine potenzielle Hereingabe zu unterbinden.
Darüber hinaus spielt natürlich auch das Verhalten im Umschaltspiel sowohl nach einem Ballverlust als auch nach einem Ballgewinn eine Rolle. Willst du beispielsweise deine Mannschaft ins Gegenpressing schicken und so den gegnerischen Konterversuch im Keim ersticken, solltest du dir zusätzlich Gedanken darüber machen, in welchen Zonen ein aggressives Gegenpressing am erfolgsversprechendsten ist und wo es vielleicht sogar Risiken birgt. Hier hilft wiederum ein Blick auf die Raumaufteilung in der Grundordnung: Wenn du die Zonen identifiziert hast, in denen Gegenpressing wenig erfolgsversprechend ist, gilt es auch für Ballverluste in diesen Bereichen ein klares Prinzip zu formulieren.
Je nachdem, ob der Ballverlust am Flügel oder im Zentrum oder bei der Spieleröffnung oder im Angriff zustande kommt, machen unterschiedliche Verhaltensweisen Sinn. Ein Gegenpressing erfordert das konsequente Nachsetzen aller Spieler*innen in Ballnähe, um eben diesen schnellstmöglich zurückzugewinnen. Ein solches Verhalten offenbart jedoch mitunter auch riesige Lücken und birgt Gefahren, in einen Konter zu geraten. Wäge daher ab, ob in manchen Fällen also eher das kollektive Fallenlassen und Verdichten zentraler Räume nicht sinnvoller sein könnte.
Auch beim Umschalten nach Ballgewinn gibt es zwei maßgebliche Fragen zu beantworten: Soll deine Mannschaft schnellstmöglich einen Gegenangriff starten oder erstmal den Ball sichern, um einen koordinierten Angriff aufzubauen? Und auch hier steht die Antwort in unmittelbarem Zusammenhang mit den Zonen, in denen der Ballgewinn stattfindet und der Raumaufteilung beim Ballgewinn. Steht der Gegner nach einer langen Spieleröffnung noch weit in der eigenen Hälfte, macht ein Konter beispielsweise weniger Sinn als gegen einen weit aufgerückten und ungeordneten Gegner, der nur noch wenige Spieler*innen hinter dem Ball positioniert hat.
Für Verfechter*innen eines proaktiven und ballbesitzorientierten Stils ist die Frage nach dem Verhalten bei eigenem Ballbesitz wohl die interessanteste. Von der Spieleröffnung über das Übergangsspiel bis zum Angriff will gut überlegt sein, welche Spieler*innen sich progressiv verhalten und nachrücken, um die Überzahl sukzessive nach vorne zu übertragen und welche Spieler*innen indes für die Kontersicherung bzw. Restverteidigung zuständig sind. Dieses Entwicklungsfeld der Spielphilosophie bietet dir als Trainer*in den wohl größten kreativen Freiraum und somit die Möglichkeit, eine "eigene Handschrift" zu vermitteln.
Im Idealfall kennst du deine Mannschaft nun schon eine Weile und weißt, wie deine Vorstellungen vom Fußball bestmöglich mit dem vorhandenen Kader vereinbar sind. Du hast das Team beobachtet, Feedback bekommen, darüber reflektiert und Anpassungen vorgenommen.
Anpassungen, um dem Team Sicherheit zu vermitteln und das gemeinsame Ziel, erfolgreich und mit Spaß Woche für Woche auf dem Platz zu stehen, nicht zu gefährden. Ein intensiver Austausch mit der Mannschaft und Offenheit für die Ideen der Spieler*innen sind gerade im Amateurbereich unabdingbar.
Daher solltest du dir auch vor der Übernahme einer neuen Mannschaften nicht nur ein Bild von außen machen, sondern unbedingt auch in die Mannschaft hineinhorchen: Wie will das Team spielen? Mit welchem Fußball identifiziert es sich am meisten? Von welchem Stil ist die Mannschaft vielleicht sogar verunsichert worden? All diese Fragen sollten in deinen Überlegungen Beachtung finden und dazu führen, dass sich deine persönliche Spielphilosophie mit den Vorstellungen der Mannschaft zu einer Identität entwickelt, die dein Team fortan ausmacht.