"Wer den Kopf erreichen will, muss den Weg über das Herz wählen! Und das Wichtigste für dich ist: du brauchst einfach eine höhere Frustrationstoleranz! Daran musst du unbedingt arbeiten!" Diesen gut gemeinten Rat gab ein E-Jugend-Trainer seinem zehnjährigen Spieler in einem Standortgespräch kurz vor Weihnachten mit auf den Weg. Doch was davon ist bei dem Kind wirklich angekommen? – Marc Dommer, DFB-Stützpunktkoordinator Mittelrhein, will seine Spieler erreichen.
Wir anwesende Erwachsene – der Trainer, die Eltern des Spielers und der Sportliche Leiter des Vereins – wussten sehr wohl, was damit gemeint war. Aber galt das auch für den kleinen Jungen in unserer Mitte? In der Nachbesprechung des Treffens waren sich Trainer und Sportlicher Leiter einig: Mit Begriffen wie ‘Frustrationstoleranz’ und ‘arbeiten’ hatten wir unseren Spieler vor ein für ihn unlösbares Rätsel gestellt. Wir mussten uns selbstkritisch eingestehen, dass wir zwar mit wohlklingenden Begriffen unser eigenes Wissen zur Schau gestellt hatten, dem uns anvertrauten Jungen mit unserer Wortwahl jedoch keine wirkliche Hilfestellung gegeben hatten. Was war nun also zu tun? Wie konnten wir dem nach jedem misslungenen Torschuss verzweifelnden und dann minutenlang hadernden Jungen klarmachen, dass ein guter Fußballer sich auch – und sogar vor allem – dadurch auszeichnet, dass er nach Fehlern und Rückschlägen nicht aufgibt, wieder aufsteht, sich nicht unterkriegen lässt und es immer wieder so lange probiert, bis es ihm gelingt?
Wir begannen, uns näher mit dem Spieler zu beschäftigen. Was war sein Antrieb? Woran hatte er Spaß? Was konnte ihn begeistern? Wie konnte man ihn erreichen? Die Suche dauerte nicht lange. Der kleine Balljäger war ein glühender Fan des zu dieser Zeit in der ersten Mannschaft des Klubs spielenden Patrick Helmes. In nahezu jeder Trainingseinheit trug er dessen Trikot und bei fast jedem Torjubel versuchte er, die Gestik seines Idols zu imitieren. Er nutzte jede Gelegenheit, den Top-Stürmer beim Training der ersten Mannschaft zu beobachten, und stand sicherlich auch mehr als einmal ehrfürchtig auf dem Parkplatz des Vereinsheims, um einen Blick auf ihn aus nächster Nähe oder ein Autogramm zu erhaschen.
Für uns war dies eine dankbare Situation, hatten wir doch einen positiv emotional besetzten Zugang zu unserem Spieler entdeckt. Hinzu kam, dass Helmes’ Biografie uns großartig in die Karten spielte. Dieser war nämlich in seiner Jugendzeit bereits für den Verein aktiv, ehe er im Pubertätsalter aussortiert wurde und als vermeintlich Gescheiterter in seinen Heimatklub zurückkehrte. Doch weder dieser Rückschlag noch diverse Verletzungen hinderten ihn daran, eine große Fußballerlaufbahn einzuschlagen und letztendlich wieder in der Profi-Mannschaft des Vereins und sogar in der A-Nationalmannschaft anzukommen.
Nach den Weihnachtsferien begann für unsere Jugendmannschaften die Hallensaison und besagter Kicker verfiel in die altbekannten Verhaltensmuster. Er spielte zunächst prima, aber sobald er die erste große Torchance vergeben hatte, ging sein Kopf nach unten. Er ärgerte sich über sich selbst und vor lauter Frust gelang ihm im weiteren Verlauf des Spiels kaum noch etwas. Darüber hinaus war ein weiteres kleines Detail auffällig: Immer wieder warf unser Schützling einen verzweifelten Blick in Richtung seiner auf der Tribüne sitzenden Eltern. Für uns waren diese Beobachtungen der letzte Beweis dafür, dass unser Interventionsversuch im Standortgespräch keine Früchte getragen hatte. Wir hatten, wie vermutet, an unserem Spieler vorbei geredet. Somit war der Zeitpunkt gekommen, einen neuen Anlauf zu starten.
Dabei war es uns aus mehrerlei Gründen wichtig, auch die Eltern nochmals einzubeziehen. Erstens, weil sie die wichtigste und einflussreichste Sozialisationsinstanz für ihr Kind sind. Oder anders ausgedrückt: Wenn die Eltern nicht am gleichen Strang wie der Trainer ziehen, wird es schwer werden, einen Zehnjährigen nachhaltig zu beeinflussen. Zweitens, ist es manchmal nicht auszuschließen, dass auch die bewussten oder unbewussten Erwartungshaltungen und Bewertungsmuster der Eltern einen destruktiven Einfluss auf das Kind haben, sodass es für sie ebenfalls wichtig sein kann, ihre Haltung zu reflektieren. Und drittens, weil auch Eltern hin und wieder das gleiche Problem haben wie Trainer: Sie sprechen nicht immer die Sprache ihrer Kinder!
Wir vereinbarten also, uns noch einmal in der vertrauten Runde zusammenzusetzen. Diesmal begann der Trainer das Gespräch nicht mit einem Monolog, sondern stellte dem Spieler zunächst einmal Fragen: "Was willst du mal erreichen? In welchen Situationen fühlst du dich auf dem Platz besonders wohl? Wann fühlst du dich schlecht? Wer ist dein Vorbild? Was zeichnet dein Vorbild aus?"
Die Antworten sprudelten nach kurzer Zeit heraus. Natürlich wollte er am liebsten Fußballprofi werden und liebte es, Tore zu schießen. Ebenso äußerte er, dass er immer gut spielen und keine Fehler machen wolle. Schlecht ginge es ihm immer dann, wenn er einen ‘blöden Fehler’ gemacht habe, weil er dann das Spiel ‘versaut’ habe. Sein Vorbild war, wie erwartet, Patrick Helmes. An ihm bewundere er, dass er so viele Tore schieße, dass er eiskalt vor dem Tor sei, dass er Nationalspieler geworden sei, dass er sich in Zweikämpfen durchsetzen könne und dass er sowieso ein cooler Typ sei.
Der Trainer nutzte diese Vorlagen geschickt und fragte, ob er denn auch wisse, wo Helmes in der Jugend gespielt habe. Nachdem dies verneint wurde, schilderte der Coach, dass Helmes einst im Nachwuchs unseres Vereins spielte, ehe man ihm sagte, dass er körperlich nicht robust genug sei, sich zu selten durchsetzen könne und ihn letztendlich ausschloss. Sichtlich überrascht und voller Aufmerksamkeit dachte der Zehnjährige dann über die Frage des Trainers nach, wie Helmes trotzdem so ein guter Kicker werden konnte und antwortete nach einiger Zeit: "Vielleicht, weil er weiter trainiert hat und besser geworden ist?"
Wieder sprang unser Trainer auf den Zug auf: Was meinst du, wie sich das für ihn angefühlt hat, aussortiert zu werden und wieder zu seinem Heimatverein zurückzukehren und vielleicht sogar als Versager ausgelacht zu werden? Wie wird Patrick Helmes wohl mit dieser Situation umgegangen sein? Werden seine Eltern ihn in dieser schweren Situation unterstützt haben? Meinst du, er wäre Profi geworden, wenn er damals aufgegeben hätte und gedacht hätte, dass seine Fußballkarriere nun ‘versaut’ sei?"
Nach und nach entwickelte das Gespräch eine Eigendynamik und der kleine Fußballer wurde immer eifriger. Es fanden sich immer mehr Beispiele von Situationen, in denen sein Vorbild Rückschläge erlitten hatte, sei es durch schwere Verletzungen oder durch vergebene Torchancen. Sein Trainer betonte immer wieder, dass ein guter Fußballer nicht vom Himmel falle, sondern aus Erfolgen und Fehlern lernen müsse, dass es eine große Qualität sei, nach Rückschlägen wiederzukommen, und dass alle großen Sportler diese Eigenschaft bräuchten. Man konnte förmlich sehen, wie der Junge diese Worte aufsaugte, und interessanterweise war auch in der Körpersprache der Eltern eine Reaktion zu erkennen, die sich als nachdenkliches Kopfnicken bis hin zu einsichtiger Zustimmung beschreiben lässt.
Der Trainer führte das Gespräch zur finalen Botschaft, indem er weitere Situationen aus der konkreten (Fußball-)Lebenswelt des Spielers aufgriff und deutlich machte, wie wichtig die oben genannten Eigenschaften seien, ehe er mit den Worten endete: "Und weißt du, was ich glaube? Ich glaube Patrick Helmes ist nicht trotz seiner Rückschläge, Fehler und schweren Situationen so gut geworden, sondern wegen dieser. Ich glaube, weil er immer wieder aufgestanden ist, aus Fehlern gelernt und sich nie hat unterkriegen lassen. Genau darum ist er so stark geworden. Und deshalb ist er vielleicht auch so cool geworden, weil er weiß, dass ihn ein Fehler nicht umwirft und er dennoch seine Ziele erreichen kann."
Als die Eltern mit ihrem Zögling den Raum verließen, hatte man den Eindruck, dass sie erleichtert waren. Es schien, als sei eine Last, vielleicht die Last des Perfektionsanspruches, von ihnen gefallen. In den nächsten Wochen und Monaten bestätigte sich dieser Eindruck. Das Kind wirkte auf dem Platz wesentlich befreiter, traute sich mehr zu und entwickelte augenscheinlich sogar eine Begeisterung dafür, nach misslungenen Situationen mit vollem Elan den nächsten Versuch zu starten. Auch seine Eltern wirkten fortan deutlich entspannter und ausgeglichener.
Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es in der Vermittlung von Inhalten und Werten sein kann, den richtigen Zugang zu finden. Dies hat nicht nur etwas mit der Wortwahl zu tun, sondern vor allem auch damit, ob es gelingt, dem altersgerecht formulierten Inhalt eine emotionale Relevanz zu geben. Wer den Kopf erreichen will, sollte den Weg über das Herz wählen! Denn wie jeder Mensch streben auch unsere Kids ständig nach Wohlbefinden und Selbstverwirklichung und befassen sich am intensivsten und ausdauerndsten mit den Dingen, die ihre Gefühle positiv berühren.
Für Juniorentrainer bedeutet dies – und zwar unabhängig von der Altersstufe und der Leistungsklasse: Ergründet, was eure Spieler antreibt, was ihre Motive sind, wofür sie ‘brennen’. Baut mit emotional besetzten Beispielen und Vergleichen Brücken zu ihrer Lebenswelt auf dem Fußballplatz auf und begeistert sie mit bildhafter Sprache. Jedes Kind hat ein Vorbild, die meisten erinnern sich an Situationen im Fußball, die ihnen besonders gut gefallen haben, fast alle stellen sich gerne vor, wie sie schwierige Herausforderungen meistern können. Den Umgang des Vorbildes mit Höhen und Tiefen, die Aussicht auf spaßerfüllte Situationen, der Stolz über die Bewältigung einer schwere Situation: Verpackt in eine dem Alter angemessene Wortwahl, ist der Schlüssel zur Sprache der Kinder zu finden.
(Quelle: DFB)