Das Positionspapier und der offene Brief der Gesellschaft für Aerosolforschung an die Politik haben große Beachtung gefunden. Die Kernbotschaften lauteten: Die Gefahren der Corona-Pandemie lauern nahezu ausschließlich in geschlossenen Räumen. Aktivitäten an der frischen Luft, darunter auch das Sporttreiben, sind unbedenklich. Dr. Gerhard Scheuch ist einer der Verfasser des Papiers. Der 65 Jahre alte Biophysiker und ehemalige Präsident der International Society for Aerosols in Medicine ist seit der Veröffentlichung des Briefs am Montag sehr gefragt und spricht nach verschiedenen TV-Auftritten am Freitag auch im Bundesgesundheitsausschuss.
Herr Dr. Scheuch, inwiefern macht es in der aktuellen Pandemielage Sinn, in Vereinen Sport zu treiben?
Dr. Gerhard Scheuch: Es macht sehr viel Sinn. Im Freien treten so gut wie keine Ansteckungen auf. In Irland sind in einer Studie 232.000 Infektionsfälle untersucht worden, 260 davon sind unter freiem Himmel aufgetreten. In anderen Worten: 99,9 Prozent der Covid-19-Ansteckungen erfolgen in geschlossenen Räumen. Ich würde Öffnungen für den Sport daher sehr befürworten. Sport ist gesund, Sport tut gut – und er motiviert die Menschen, Innenräume zu verlassen. Er bringt sie an die frische Luft. Denn eins wissen wir sicher: Es sind die Innenräume, in denen wir uns anstecken.
Wie stark ist vor diesem Hintergrund zwischen Indoor- und Outdoor-Sport zu differenzieren?
Scheuch: Fußball ist völlig unbedenklich. Bei Indoor-Sportarten muss man genauer hinschauen, aber auch hier ist Angst aus meiner Sicht unangebracht. Sporthallen sind in der Regel sehr groß. Wenn man dort nicht Unmengen an Menschen versammelt und darüber hinaus eine gute Lüftung hat, ist auch Indoor-Sport möglich. Die Lüftung ist entscheidend. Man kann die Gegebenheiten in einer Halle sehr einfach mit einer CO2-Messung überprüfen. Wenn sich eine CO2-Konzentration anreichert, ist das ein Alarmsignal. Ist der Wert dagegen stabil, ist die Durchlüftung gut und das Sporttreiben in der Halle unbedenklich.
Was ist für den Fußball zu beachten? Sind Kleingruppen sinnvoll? Muss das Training aus Ihrer Sicht in der aktuellen Situation kontaktfrei durchgeführt werden?
Scheuch: Klares Nein. Spielformen, Zweikämpfe, also ein ganz normales Mannschaftstraining sind problemlos möglich. Kleingruppen und Training streng auf Abstand ergeben keinen Sinn. Für das grundsätzliche Verständnis ist wichtig: Ansteckungen entstehen durch Aerosole, nicht durch Kontakte. An der frischen Luft verflüchtigen sich Aerosole sehr schnell, die nötige Konzentration für eine Ansteckung wird dadurch nicht erreicht. Darüber hinaus sind die Kontaktzeiten im Fußball ohnehin sehr kurz. Darum: Lasst die Leute, speziell die Kids, wieder kicken. Es ist ja Wahnsinn, was wir aktuell machen.
Was sagen Sie zu den Differenzierungen nach Alter fürs Training? Zuletzt war in vielen Bundesländern bis 14 Jahren Training in Gruppen bis zu 20 Personen erlaubt, ab 15 Jahren nur in Zweier-Gruppen.
Scheuch: Eine Altersbeschränkung für Sport im Freien halte ich für überflüssig. Das Alter ist egal, weil es so gut wie keine Ansteckungen im Freien gibt. Von daher könnte man das aufheben.
Was ist rund ums Fußballtraining zu berücksichtigen in Bezug auf mögliche Gefahren?
Scheuch: Zu beachten ist die Anfahrtssituation. Die Anreise im Auto sollte nicht in Gruppen erfolgen. Zudem sollten möglichst die Fenster offen sein und es ist eine Maske zu tragen. Genau im Blick muss man auch die Toilettenanlagen haben. Dort ist eine ausreichende Lüftungsmöglichkeit zwingend. Alle Beteiligten müssen letztlich immer eine Frage im Kopf haben: Wo können sich Aerosole aufhalten? Das hilft bei der Organisation.
Ist Ihre Argumentation auch für die britische Mutation des Virus‘ haltbar?
Scheuch: Ja. Die Mutation ist an der frischen Luft genauso wenig ansteckend wie die alten Varianten. Darum gibt sie der Diskussion zu diesem Thema keine andere Grundlage und Richtung.
Wie erklären Sie sich dann die weiter vorhandene starke Zurückhaltung gegenüber dem Breitensport und das anhaltende Denken in Verboten?
Scheuch: Das Verständnis, was man unter einer Aerosolübertragung versteht, was sie bedeutet, wie sie funktioniert, ist noch nicht richtig vorhanden – auch bei vielen Wissenschaftler*innen nicht. Aerosolwissenschaft ist sehr komplex, darum werde ich kommende Woche auch einen regelmäßigen Podcast starten, um öffentlich in die Tiefe zu gehen und Verständnis zu schaffen. Die Krux ist, dass wir in Deutschland nach wie vor keine konsequente Differenzierung in Außen- und Innenbereiche vornehmen. Zu Beginn der Pandemie dachte man, es handelt sich um eine Tröpfchen- und Kontaktinfektion. Logisches Ergebnis: Überall Kontakte reduzieren. Das wirkt bis heute nach. Mittlerweile wissen wir aber, dass Aerosole der Hauptübertragungsweg sind. Das ist Wissenschaft live.
Die ersten Hygienekonzepte vergangenes Jahr empfahlen noch die Desinfektion von Bällen und Trainingsmaterialien…
Scheuch: Ein schönes Beispiel. Gut gemeint, aber letztlich Unsinn. Da hätte man genauso gut einen Zauberspruch aufsagen können, das hätte die gleiche Wirkung.
Vor wenigen Wochen haben mehr als 100.000 Menschen an einer bundesweiten DFB-Umfrage teilgenommen: 98 Prozent gaben an, dass sie den Amateurfußball vermissen. Den Erwachsenen fehlt besonders das Gemeinschaftsgefühl (71 Prozent), die Kinder und Jugendlichen vermissen gemäß Umfrage vor allem das aktive Fußballspielen (89 Prozent). Was sagen Sie diesen Menschen?
Dr. Scheuch: Dass sie rausgehen und Sport machen sollen, natürlich im Rahmen der erlaubten Möglichkeiten. Vergesst die Angst. Das Risiko an der frischen Luft wird leider an vielen Stellen heillos überschätzt. Erst kürzlich bin ich ernsthaft gefragt worden: "Wann darf ich wieder rausgehen?" Da bin ich fast vom Glauben abgefallen. Das war auch der letzte Anstoß für mich, den offenen Brief mit der Gesellschaft für Aerosolforschung zu verfassen.
Dr. Gerhard Scheuch ist Biophysiker, Geschäftsführer der GS BIO-Inhalation GmbH und Mitglied der Gesellschaft für Aerosolforschung. Der Wissenschaftler aus Gemünden/Wohra war Präsident der International Society for Aerosols in Medicine und gilt als weltweit anerkannter Aerosolexperte. Scheuch spielte früher aktiv Handball und war 30 Jahre lang passionierter Marathonläufer, nahm zwischen 1985 und 2015 unter anderem an den Marathons in Frankfurt, Berlin und Boston teil. Seine Bestzeit liegt bei 2:36:05 Stunden. Seit einem Gartenunfall im Jahr 2018 ist er querschnittsgelähmt, jetzt fährt er regelmäßig Handbike, allein im vergangenen Jahr 10.000 Kilometer.
Die Gesellschaft für Aerosolforschung e.V. (GAeF) wurde 1972 als gemeinnütziger Verein von Pionieren der Aerosolforschung in deutschsprachigen Ländern (Deutschland, Österreich, Schweiz) und darüber hinaus gegründet und hat sich zur Aufgabe gemacht, die wissenschaftliche Aerosolforschung national und international zu fördern. Beispielsweise organisiert die GAeF regelmäßig die Europäische Aerosolkonferenz mit bis zu 1000 Teilnehmenden, zuletzt - erstmals online - im September 2020. Zu den Mitgliedern der Gesellschaft gehören neben national und international führenden Forscher*innen auch viele Studierende und DoktorandInnen aus allen Aerosolforschungsgebieten. Die GAeF hat etwa 350 Mitglieder aus 35 Ländern und ist in der European Aerosol Assembly mit allen anderen europäischen Gesellschaften zur Aerosolforschung koordiniert und darüber hinaus in der International Aerosol Research Assembly global vernetzt.
Quelle: DFB/jb